Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
Vom Netzwerk:
lag, die Hände auf dem Rücken gefesselt, auf einer Schwelle, der Nacken auf der einen, die Beine auf der anderen Schiene.
    Der Anblick durchzuckte ihn, wie ein Stromschlag durch die Frösche auf dem Jahrmarkt fährt, und brachte Leben in seinen geschundenen Körper. Tom zerrte an den Fesseln, er versuchte, sich von der Schwelle wegzustemmen, bäumte sich auf, doch es war sinnlos, und die Schmerzen wurden dadurch nur noch heftiger. Er kam nicht los.
    Tom sammelte Kraft, versuchte, die Finger an den Knoten um seine Handgelenke zu bringen, doch ohne Erfolg. Er schob die Füße gegeneinander in der verzweifelten Hoffnung, die Fesseln an seinen Beinen zu lockern, doch die Seile blieben so fest wie eine Eisenklammer. Er sammelte Spucke, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und über die Innenseite der Wangen, versuchte zu schreien, und nach einiger Zeit kam tatsächlich ein Geräusch aus seiner Kehle.
    Nicht laut, nicht lang.
    Der Schrei verlor sich.
    Erschöpft verstummte Tom, der Schweiß lief ihm über die Stirn in den Nacken. Ein paar Wildenten flogen von dem Weiher auf. Der Wind raschelte in den Silberpappeln, die am Seeufer standen.
    Er war allein.
    Mutterseelenallein.
    Hinter dem Weiher erstreckte sich ein Wald, und sanfte Hügel wölbten sich unter Wolkentürmen zum Horizont. Ein friedliches Bild. Ein tödliches Bild von Einsamkeit. Wann würde ein Zug kommen? Wo war er? War das am Horizont der Hydesburg Hill? Ein paar Meilen westlich der Stadt? Wer sollte ihn hier finden? Hier lebte niemand. Hier kam niemand vorbei. Nur der Zug.
    Der Mittagszug.
    Tom blickte zum Himmel. Die Sonne stand bereits hoch. Wie lange würde es dauern? Er zuckte zusammen, als ihn etwas in die Wade stach. Tom drückte das Kinn auf die Brust, bis ihn der Nacken schmerze, und er sah schwarze Punkte, die sich über die Schiene auf sein linkes Bein zubewegten. Ameisen.
    Dicke schwarze Ameisen, die ihm unter die Hose krochen wie an einer Perlenkette. Er biss die Zähne zusammen.
    Mach was! Denk nach! Wie kommst du hier weg?
    Tom wollte sich konzentrieren, aber die Ameisen, die sengende Sonne und die Vorstellung, was er mit Dale und Jeb anstellen würde, sollte er je von hier wegkommen, hinderten ihn daran, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Er riss erneut an den Fesseln und schrie, minutenlang, bis er keuchte vor Erschöpfung und das Keuchen zu einem Schluchzen wurde.
    Toms Blick verschwamm, seine Augen wurden feucht. Heiliger Christophorus, wo bist du, wenn man dich braucht?
    Das Medaillon in seiner Brusttasche half ihm ebenso wenig, wie es Polly geholfen hatte. Was für eine bescheuerte Idee, nach St. Petersburg zu kommen. Die wohl schlechteste Entscheidung seines Lebens.
    Und wohl auch die letzte.
    Dann ertönte der Pfiff. Gellend, laut, grausam, wie der berüchtigte Kampfschrei der Rebellen auf den Schlachtfeldern. Das Geräusch ging Tom durch Mark und Bein. Er riss den Kopf zur Seite und sah am Horizont, jenseits des Sees, eine Dampfwolke über den Silberpappeln aufsteigen.
    Da war der Mittagszug. Und er würde schneller bei Tom sein, als man brauchte, um einen kleinen Apfel zu essen. Ganz langsam, wie das einsetzende Rascheln von Blättern im Wind, begann die Schiene unter seinem Nacken zu vibrieren. Tom kniff die Augen zusammen.
    Das war es dann also.
    Hier, im Nirgendwo, würde es zu Ende gehen, ohne dass er wusste, wer seine Tante umgebracht hatte. Polly.
    Es tut mir so leid.
    Ein Gesicht trat vor sein inneres Auge. Blond, ein Lachen, schöner als jeder neue Morgen.
    Warum bin ich überhaupt jemals weggegangen, Becky? Was bin ich doch für ein nichtsnutziger Idiot.
    Mit einem Mal hörte er das Geräusch von Schritten im Gras, und er wandte den Kopf um. Ein Junge. Zehn, vielleicht elf. Zerschlissenes Baumwollhemd über einer Wildlederhose mit Fransen. Ein Indianer, Potawatomi vermutlich.
    Die schwarzen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Mandelaugen in einem breiten Gesicht. Misstrauisch musterte er den Mann auf den Schienen.
    Tom riss die Augen auf. Er hätte beinahe laut aufgeschrien. »Hey! Junge! Gut! Das ist gut! Du musst mir helfen, verstehst du? Du musst mich hier losmachen! Der Zug, verstehst du? Tschuu-tschuu!«
    Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der der Zug kam, dann wieder zu dem Jungen. Der verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und betrachtete den aufsteigenden Rauch auf der anderen Seite des Sees. Man konnte bereits den Schornstein der Lokomotive ausmachen. Tom nickte heftig. Ihm war klar, dass er ein

Weitere Kostenlose Bücher