Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
Vom Netzwerk:
ihn durch ein Dachfenster in das Haus. Auf dem Speicher war es düster, auch hier war überall Nebel, und in Netzen, die von der Decke hingen, lagen allerlei Fundstücke. Fotografien von seinen Eltern, Zeitungsausschnitte, eine Derringer, Yamswurzeln, Hopfen und Erbsen. In der Mitte des Speichers war ein Katafalk errichtet. Auf einem Tisch stand ein Bett, darin lag eine alte Frau, die Hände vor der Brust gefaltet.
    Tom trat näher, er konnte kaum etwas erkennen, doch auf einmal hatte er eine Fackel in der Hand.
    Er wusste, dass er nicht sehen wollte, wer dort lag, die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er blieb stehen, aber das änderte nichts daran, dass das seltsame Bett trotzdem näher kam. Unter unzähligen zerschlissenen Decken zeichnete sich ein Körper ab. Tom wollte den Kopf der Frau nicht sehen, doch als er auf ihre Hände blickte, waren dort auf einmal sechs Arme mit sechs Händen, die Finger mit einem Knäuel aus Bast verschlungen. Erschrocken blickte er zu dem Kissen. Drei Frauen lagen dort, die Köpfe eng beieinander: seine Mutter, Polly und Debbie Chisholm, die Frau des Fischers.
    Sie öffneten den Mund und schrien ihn an: »Du bist der Hüter des Lichts! Vergiss das nicht! Du kannst es geben, und du nimmst es, ganz wie es dir gefällt! Vergiss das nicht!«
    Anklagend und mit wutverzerrten Gesichtern blickten sie an ihm vorbei.
    Tom, dem eine Welle von Scham die Tränen in die Augen trieb, schüttelte flehend den Kopf. »Ich? Aber ich bin doch nicht … ich hab doch nur …«
    Er folgte ihrem Blick und erkannte, dass sie auf seine Fackel starrten. Das Licht. Die Frauen hatten recht.
    Er war der Hüter des Lichts.
    Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag, und er blickte an sich hinunter und sah, dass sein Körper nicht mehr sein Körper war. Er war aus Bast, von oben bis unten bestand er aus dünnen gelben Schnüren, und seine langen, zottigen Basthaare hingen ihm über seine Bastschultern. Dann wusste er plötzlich, dass der Nebel kein Nebel war, sondern Rauch.
    Und der Rauch kam von ihm. Er hatte an seiner eigenen Fackel Feuer gefangen und brannte.

2. Teil
    Raserei und Schlaf sind die beiden Tore, durch die
man Eintritt zum Rat der Götter erhält, wo man die
Zukunft voraussehen kann.
    MICHEL DE MONTAIGNE (1533 – 1592)

Bei den Potawatomi,
am Morgen des 14. Juli 1865
    Tom schrie auf und schreckte aus dem Schlaf.
    Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb, und die Bilder eines verlöschenden Traumes mischten sich mit dem Zwielicht, das in diesen seltsamen Ort drang.
    Rauch hing in der Luft, Rauch aus einem offenen Feuer in einem Kreis von Findlingen, und er kräuselte sich träge zur Decke, wo er durch eine tellergroße Öffnung abzog. Die Wände der runden Behausung waren aus Flechtwerk gemacht und mit Moos ausgekleidet. Durch kleine Ritzen fiel Sonnenlicht herein und zerschnitt den Rauch mit schimmernden Strahlen.
    Verwirrt blickte Tom sich um.
    Er lag auf einem Fell, und eine bunte handgeknüpfte Decke war über seine Füße gebreitet. Von den Ästen über ihm hingen Tierhäute und Fleischstücke, die zum Trocknen aufgehängt worden waren, und dazwischen baumelten seltsame kleine Gebilde aus Perlen, Muscheln und Federn.
    Er hatte geschlafen. Gott allein wusste, wie lange. Und er hatte geträumt. Tom streckte sich und spürte, wie das Blut in seine steifen Glieder zurückfloss. Und Schmerzen spürte er auch. Im Gesicht, am Rücken. Aber längst nicht so heftig wie auf den Schienen.
    Die Schienen. Der Zug. Der Junge. Danach erinnerte er sich an nichts mehr. Wann war das gewesen? Er hatte geschlafen, aber wie lange? Schwer zu sagen. Und wo war er überhaupt? Tom ließ sich zurück auf sein Lager fallen, als es plötzlich an der Wand gegenüber raschelte.
    Ein Fell wurde zur Seite geschoben, Sonnenlicht flutete in den Raum, und ein uraltes, hässliches Gesicht, umrahmt von grauen Haaren, erschien. Aus dem zahnlosen Mund drang ein gellender Schrei. Dann verschwand das Gesicht so schnell, wie es gekommen war. Die aufgeregte Stimme der alten Frau entfernte sich zeternd. Sie schimpfte in einer Sprache, die er nicht verstand.
    Indianersprache.
    Tom erhob sich. Ihm war schwindelig, und er musste den Kopf einziehen, um nicht an die Decke der Behausung zu stoßen. Hier oben hing der Rauch, bevor er abzog, und Tom hustete und humpelte schwankend und gebückt auf das mit einem Fell verhängte Eingangsloch zu. Die linke Seite tat ihm weh, ebenso sein linkes Knie und der Brustkorb, und an seiner

Weitere Kostenlose Bücher