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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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Stirn spürte Tom eine Beule, die so groß sein mochte wie ein Hühnerei. Er bemerkte, dass er etwas um den Hals hängen hatte. Es war die Kette.
    Seine Kette mit dem heiligen Christophorus.
    Der Junge hatte sie ihm zurückgegeben und noch dazu repariert. Tom führte das Medaillon an den Mund und küsste es. Was immer der Junge darin gesehen haben mochte, es hatte ihm wohl das Leben gerettet.
    Er schob das Fell beiseite und trat hinaus. Das gleißende Sonnenlicht brannte ihm in den Augen, und er blinzelte. Der Rauch aus drei kuppelförmigen Behausungen und von einem Lagerfeuer in der Mitte stieg zwischen mächtigen Eichen und kleinen Birken zum Himmel.
    Die Hütten standen in einer Senke und schmiegten sich so nahe an die zerklüfteten Felsen, als hätten drei riesige, moosbedeckte Schildkröten Schutz im Wald gesucht. Zwei Kleinkinder, die bis auf einen Lendenschurz nackt waren, rannten kreischend vor Vergnügen zwischen den Hütten herum und jagten sich gegenseitig.
    Eine junge Frau blickte auf, als Tom aus der Hütte trat. Sie saß vor einem Rahmen, auf den eine Tierhaut aufgespannt war, und gerbte das Fell mit einer glitschigen Masse, die sie mit den Fingern aus einem Birkeneimer kratzte. Die Masse sah aus wie das Hirn eines Tieres.
    Ein Mädchen brachte Feuerholz, ohne Tom zu beachten. Die Frauen hatten lange Kleider an und eine braune Decke um die Schultern geworfen, verziert mit bunt gefärbten Borsten und Muscheln. Die ältere trug einen Zylinder; beide hatten schwarzes Haar, das zu Zöpfen geflochten war.
    Von der Greisin, die ihn in der Hütte entdeckt und ihn angeschrien hatte, war nichts zu sehen, und auch den Jungen, der ihn von den Gleisen geschnitten hatte, konnte Tom nirgends entdecken.
    Am Feuer zwischen den drei Hütten saß ein alter Mann mit einem runzligen und zerfurchten Gesicht, das von langen grauen Haaren umgeben wurde, in die Perlen eingeflochten waren. In der Pfeife, die er in der Hand hielt, glomm etwas, das aussah wie Weidenkätzchen. Der Alte drehte ein abgezogenes Kaninchen über dem Feuer, während er gleichzeitig das Fleisch von den Knochen zupfte. Auf den großen heißen Steinen, die das Feuer einfassten, buken dampfende Maisfladen.
    Tom spürte, wie sein Magen knurrte, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Wie lange hatte er nichts mehr gegessen? Einen Tag? Länger? Er suchte den Blick des Alten.
    »Guten Tag, Sir. Der Name ist Tom. Tom Sawyer. Darf ich?« Tom hatte zuerst auf seine Brust gedeutet, dann auf den Boden neben dem Alten.
    Der Indianer stopfte sich Kaninchenfleisch in den zahnlosen Mund und blickte kurz und gleichgültig zu Tom auf. Er antwortete nicht und drehte mit seinen knotigen, von Adern überzogenen Händen einen Maisfladen um.
    Tom wartete kurz, und als keine Antwort kam, setzte er sich hin. Dem Alten schien das gleich zu sein. Er fischte etwas Gelbrotes, vermutlich Kürbis, aus einer hölzernen Schale neben dem Feuer, dann schob er sich aus einem anderen Gefäß etwas Mais in den Mund und zermahlte alles mit kreisenden Bewegungen seiner Kiefer.
    Der Duft des gebratenen Kaninchens drang Tom in die Nase, ihm wurde beinahe schwindelig davon. Er beugte sich vor, um den Blick des Alten zu erhaschen, lächelte freundlich und deutete auf das Kaninchen. Es war ein riesiges Tier, und das Fett tropfte zischend in die Glut.
    »Gut, hm?« Er nickte, doch der Alte zeigte keinerlei Regung. Tom rutschte etwas näher, deutete auf das Kaninchen, dann auf seine Brust. »Könnte ich vielleicht etwas davon haben, alter Mann? Von diesem Kaninchen, meine ich? Zum Essen, meine ich? Bitte?«
    Tom legte die Fingerspitzen zusammen und deutete damit mehrmals auf den Mund. Der Indianer schwieg, klaubte Mais und Kürbis aus den Schalen, kaute, drehte Maisfladen um und zerstach die Blasen im Teig mit einem spitzen Fingernagel. Tom wartete, beobachtete den Alten aufmerksam, doch es kam nichts.
    »Gut«, sagte Tom dann, »ich schätze, du verstehst mich einfach nicht. Aber wie ich das sehe, nehme ich hier niemandem etwas weg. Und ich habe Hunger. Ich werd jetzt was von deinem Kaninchen nehmen, in Ordnung?« Er streckte die Hand aus, zupfte etwas heißes Fleisch von dem Tier.
    »Au!« Er zuckte zurück. Der Alte hatte ihm blitzschnell mit dem Griff seiner Pfeife auf die Finger geschlagen. Tom hatte noch nicht einmal die Bewegung des Alten gesehen.
    »W-was soll das? Hör mal, du … Du kannst mir doch nicht einfach auf die Pfoten hauen!«
    Der Alte saß reglos da, kaute weiter, die Pfeife

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