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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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einfach zusammen. Er stürzte auf die Knie und erbrach den Whiskey, vermischt mit etwas, dass man ihm bei Madame Pauline als Brunswick Stew verkauft hatte.
    Dale und Jeb warteten stumm, während Tom ausspuckte und sich mit dem Ärmel über den Mund fuhr. Zitternd hob er die Hand. »Okay. Ich hab’s kapiert. Ihr könnt mich nicht besonders leiden. Aber meint ihr nicht, es reicht jetzt? Meint ihr nicht, ihr bekommt echt Ärger, wenn ihr so weitermacht?«
    Dale blickte wieder fragend zu Jeb. Der hielt die Waffe weiter auf Tom gerichtet und zuckte nur kurz mit den Schultern. »Mach mit ihm, was du mit seinem Hündchen gemacht hast, Dale.«
    Dale lächelte. »Das is’ gut, Jeb. Das mach ich.«
    Er wandte sich zu Tom, verschränkte die Finger und ließ sie knacken.
    Hollis! , schoss es Tom durch den Kopf. Der Zorn kroch ihm wie glutheißes flüssiges Eisen über den Nacken. Er sprang auf und rannte los.
    Direkt in Dales Faust.
    Die Schwärze kam augenblicklich.
    Die anderen Schläge spürte er schon nicht mehr.

Sieben Meilen vor St. Petersburg, am Mittag des 13. Juli 1865
    Ein Glitzern wie von tausend funkelnden Sternen.
    Lichtpunkte, gleißend hell, überlagerten sich, verschmolzen zu einer einzigen strahlenden Quelle und lösten sich wieder auf in Dunkelheit.
    War das die Unendlichkeit? Das Nichts? Wenn es Gottes Ewigkeit war, dann fühlte sie sich schmerzhaft an. Sehr schmerzhaft.
    Eher wie das Fegefeuer.
    Doch das Licht war nicht rot oder orange, und für die Hölle war es zu kühl.
    Tom schloss die Augen wieder. Sein Körper war nichts als Schmerz. Sein Kiefer tat ihm weh, in der Stirn hämmerten rasende Kopfschmerzen, und die Haut spannte, dort wo das Blut getrocknet war. Seine Eingeweide brannten überall, wo die Schläge ihn getroffen hatten, und sein Nacken und seine Waden waren stocksteif, wie mit Draht festgemacht. Er versuchte, sich zu bewegen, aber es ging nicht.
    Und dazu dieser Durst. Seine Zunge fühlte sich rau an und geschwollen; er würde vertrocknen, wenn er nicht augenblicklich etwas zu trinken bekam. Wo war er? Und was war er? Schon tot? Oder kurz davor? Und wo war Hollis? Was hatten diese Bastarde mit ihm gemacht?
    Die Nacht vor dem Gefängnis war wie in einen dunklen Nebel getaucht. Ein Nebel aus Schlägen, Tritten, noch mehr Schlägen und Schmerz. Dann hatte es aufgehört. Irgendwann war es still, und er meinte, er hätte Schritte gehört.
    Er konnte sich nicht bewegen, kein Körperteil schien mehr zu ihm zu gehören, geschweige denn, ihm zu gehorchen.
    Er hatte geschlafen oder war wieder ohnmächtig geworden, wer wusste das schon? Doch dann waren andere Schritte zurückgekommen.
    Als er versuchte, die Augen zu öffnen, war ihm ein Sack über den Kopf gestülpt worden und kräftige Hände hatten ihn über den morastigen Boden geschleift. Man hatte ihn hochgehoben, und Tom spürte harte Bretter im Rücken. Der neue Tag war angebrochen; durch die Maschen des Sacks hatte er die Helligkeit gesehen. Doch dann hörte er ein Rascheln wie von einem Tuch oder von einer Plane, und wieder wurde es dunkel.
    Tom wollte schreien, doch seine geschwollene Zunge erstickte ihn fast und er konnte den Kiefer nicht bewegen. Sein schon klägliches Röcheln wurde vom Geräusch der Hufe übertönt. Das Rattern von Rädern und das schmerzhafte Rütteln ließen ihn erneut in tiefe Dunkelheit sinken. Dann war alles schwarz.
    Bis das helle Licht kam.
    Tom blinzelte und versuchte erneut, die Augen zu öffnen. Der Sack, den man ihm über den Kopf gezogen hatte, war offensichtlich weg. Er konnte ein Auge halb öffnen, das andere war von Blut verklebt oder zugeschwollen.
    Das Glitzern war noch da. Aber es waren keine Sterne. Es war die Sonne, hoch am Himmel. Heiß und erbarmungslos. Seine Wangen und der Nasenrücken brannten. Seit wie vielen Stunden lag er so in der Sonne?
    Und wo lag er?
    Tom versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen. Schmerzen. Und wieder ein Glitzern. Die Sonne funkelte tausendfach von einem kleinen See zurück. Aber da war noch etwas. Etwas Langes, Gerades.
    Etwas, das sich vom Horizont bis direkt zu seinem Kopf erstreckte. Tom blinzelte abermals, und langsam löste sich das getrocknete Blut von seinem Augenlid. Und die Erkenntnis, wo er lag, schlug ihm wie einer von Dales Tritten in die Magengrube. Er wollte schreien, aber es gelang nicht. Kein Laut des Entsetzens kam über seine Lippen, nur ein heiseres Krächzen.
    Schienen.
    Eisenbahnschienen von der Unendlichkeit bis zu seinem Kopf und seinen Füßen. Er

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