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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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umwickelt waren, auf eine große Trommel. Die Frauen stimmten einen rhythmischen Gesang an.
    Tom hörte ein Geräusch, wie Glöckchen, die in der Ferne angeschlagen wurden, und der Alte, der am Morgen seinen Spaß mit ihm getrieben hatte, stand auf und tanzte. Er ging in die Knie und machte kleine Hopser, wobei er mit den Sohlen seiner Mokassins kräftig aufstampfte und sich im Kreis um das Feuer bewegte. Es sah aus, als würde er Funken auf dem Boden austreten. Dabei schüttelte er einen ausgehöhlten Ast in den Händen, in dem Steinchen oder Bohnen ein rasselndes Geräusch erzeugten. Er warf die Decke, die er um die Schultern gelegt hatte, über die fellbespannten Stangen, stimmte einen hohen, schrillen und klagenden Gesang an und schlug mit der flachen Hand gegen die Felle an der Seite, sodass sie zitterten und es aussah, als würde das seltsame Zelt leben, ja atmen.
    Es kam Tom vor, als würde ein ferner, starker Wind durch entlaubte Bäume fahren, sich mit fremdartigen Stimmen zu einem Zischen und Rascheln mischen wie aus anderen Zeiten. Was war das? Er war hellwach, und doch schienen ihm seine Sinne einen Streich zu spielen. Lag es an der Pfeife, die Shipshewano ihm gegeben hatte?
    »Was ist das? Weidenkätzchen?«, flüsterte er Shipshewano zu, als er den Rauch ausblies und dem Clanführer die Pfeife zurückgab, während der alte Mann seinen Tanz unterbrach und sich mit einer Art klagenden Litanei dem jungen Krieger auf der anderen Seite des Feuers zuwandte.
    Shipshewano schüttelte den Kopf. »Weidenkätzchen für alten Mann. Knochen schmerzen. Weidenkätzchen gut gegen Schmerzen.« Er führte die Pfeife an die Lippen und sog den Rauch tief ein. »Das hier gut für Vereinigung mit unsichtbaren Geistern. Gut für Vision. Gut für Kraft gegen bösen Dämon.«
    Der böse Dämon.
    Shipshewano hatte recht, Tom konnte Kraft brauchen, wenn er gegen ihn kämpfen wollte.
    Als er am Morgen erfahren hatte, dass Shipshewano und dessen Leute den Mörder schon einmal gesehen hatten, war er wie elektrisiert gewesen. Doch der Häuptling des versprengten Stammes konnte ihm nur wenig mehr sagen, als Tom schon wusste. Er war ein Schatten, der nach Belieben zu kommen und gehen schien und den auch die erfahrensten Fährtenleser der Potawatomi nicht aufspüren konnten. Shipshewano weigerte sich, Tom mehr darüber zu erzählen, solange Tom sich nicht gewaschen, etwas gegessen und geschlafen hätte. Toms Protest beeindruckte den Häuptling nicht, und nachdem Tom seinen Kragen etwas vorgezogen hatte und an seinem Hemd schnupperte, konnte er nicht mehr widersprechen. Er glaubte nicht an den Schlaf, aber etwas Wasser unter den Achseln konnte nicht schaden.
    Shipshewano rief nach der jungen Frau, die das Fell mit dem Tierhirn gegerbt hatte, und die begleitete Tom zu einer kleinen Quelle in der Nähe. Als sie sah, dass er sich unter starken Schmerzen vorwärtsschleppte, legte sie seinen Arm um ihre Schultern und half ihm.
    Die Quelle ergoss sich in ein kleines natürliches Becken, bevor das Wasser über einen großen Felsen perlte und sich als kleiner Bach munter durch den Wald schlängelte. Tom kniete sich hin und erschrak, als er sein Spiegelbild im Wasser sah. Die Beule an der Stirn erschien ihm riesengroß und schimmerte dunkel, er war unrasiert, die Haare hingen in fettigen Strähnen herunter, und sie waren mit Blut verkrustet, genau wie seine Wange. Tom wusch sich Haare und Gesicht und spritzte sich etwas Wasser unter die Arme, dann richtete er sich auf und wollte zurück zu den Hütten. Doch die junge Frau hielt ihn auf und deutete auf seine Kleider.
    Tom hob abwehrend die Hände. »Nein, nein. Das ist schon in Ordnung, ich kann auch baden, wenn ich wieder in –«
    Sie schimpfte. Laut und wütend. Unablässig deutete sie auf seine Kleider.
    Tom gab sich geschlagen, schälte sich aus den von Schmutz starrenden Kleidern, bis er schließlich in seinen Long Johns vor ihr stand. Sie machte ein todernstes Gesicht und zeigte sich unerbittlich. Tom gab seufzend nach, zog auch noch die lange Unterhose aus, wobei er bemerkte, dass sie sich abwandte und ein wenig verschämt kicherte. Dann beeilte er sich, in das Becken zu kommen, was wegen seiner Verletzungen sehr schmerzhaft war.
    Das Wasser war eiskalt, dennoch genoss Tom die Erfrischung. Und während er sich an Stellen schrubbte, an die tagelang weder Wasser noch Licht gekommen war, nahm die junge Frau seine Kleider auf, ging ein paar Schritte den Bach abwärts, leerte seine Taschen und

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