Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
wusch den Dreck aus seinen Sachen. Er sprach sie an, nannte seinen Namen und erfuhr, dass sie Kewanee hieß.
Nach dem Bad fühlte er sich erfrischt, und Kewanee gab ihm die Decke, die sie um die Schultern gelegt hatte, damit er seine Blöße bedecken konnte. Sie half ihm zurück ans Lagerfeuer, hieß ihn auf einem Hirschfell Platz nehmen und reichte ihm eine Art Brei in einer Schüssel. Dann breitete sie seine Kleider zum Trocknen über einen Busch. Der Brei sah entsetzlich aus, schmeckte aber überraschend gut. Kewanee blieb neben Tom sitzen und überwachte jeden Bissen, den er zu sich nahm.
Sie schien zufrieden mit seinem Appetit. Als Tom die Schüssel geleert hatte und satt war, wollte er aufstehen, doch die strenge junge Frau fasste ihn an der Schulter und schüttelte den Kopf.
»Was ist? Mir geht’s gut. Ich hab auch keinen Hunger mehr, ich will meine Kleider –«
»Shhhh.« Kewanee drückte ihn zurück, dann strich sie ihm über den Kopf, so wie man ein störrisches Kind beruhigte, und verstärkte den Druck auf seine Schulter.
Tom verzog schmerzhaft das Gesicht, gab ihrem Drängen nach und legte sich hin. »Ich bin aber nicht müde, das Bad war erfrischend, und ich –«
»Shhhh.«
Sie strich ihm über die Stirn, und Tom verstummte. Die junge Frau stimmte einen Gesang an, leise und sanft wie ein Wiegenlied. Toms Blick fiel auf die Blätter in den Bäumen über ihm, die sanft im Wind raschelten und durch die das Sonnenlicht perlte. Sonnenlicht.
Becky tauchte vor seinem inneren Auge auf, wie sie bei Dobbins im Garten gestanden hatte und das Sonnenlicht ihren Rock durchscheinend gemacht hatte. Wo war sie? Was machte sie gerade? Machte sie sich Sorgen um ihn?
War jemand unterwegs, um ihn zu suchen, oder war es manchen Leuten in St. Petersburg gerade recht, dass er verschwunden war? Was, wenn es nicht angefangen hätte zu regnen? Damals, vor vielen Jahren, in der Scheune vor der Stadt, als er mit Becky dagelegen hatte. Was, wenn da kein Donner gewesen wäre und kein Pferd, das gewiehert hätte?
Was, wenn er einfach dageblieben wäre?
Wenn er nie weggegangen wäre?
Über diesen Fragen war er eingeschlafen und erst wieder erwacht, als es bereits dunkel war.
»Tom Sawyer.«
Shipshewanos Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der Häuptling reichte Tom wieder die Pfeife.
Tom schätzte Shipshewano auf etwa vierzig; sicher sagen konnte er es nicht. Das Gesicht des Mannes war vom Wetter gegerbt, und um den Mund lag ein trauriger Zug. Die Trommelschläge beschleunigten Toms Herzschlag, als wären die Trommeln und sein Herz durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft.
Der Alte tanzte nun wieder und ließ seinen rhythmischen hohen Gesang an den Zeltwänden entlangstreichen.
Tom sog an der Pfeife. Was immer auch darin war, es begann seine Wirkung zu tun. Tom fühlte sich leicht benommen wie nach zwei Gläsern Whiskey, doch anders als beim Schnaps fühlte er sich gleichzeitig hellwach, und seine Zunge kribbelte.
»Warum seid ihr hier?«, fragte er Shipshewano, »und nicht bei den anderen? Den anderen eures Stammes?«
Der Häuptling musterte ihn kurz und prüfend aus den Augenwinkeln. »Wir nicht da, wo wir herkommen, und wir nicht da, wo wir hinsollen.«
Tom legte fragend die Stirn in Falten, und Shipshewano erklärte ihm, dass sein Stamm vor bald dreißig Jahren aus der Nähe von Plymouth im nördlichen Indiana vertrieben worden war. Auf Betreiben des Gouverneurs von Indiana hatte ein Freiwilligenregiment unter einem General John Tipton fast tausend Potawatomi aus ihren Dörfern zusammengetrieben, weil sie sich weigerten, ihr angestammtes Land zu verlassen. Sie mussten weg. Nach Westen.
»Sie nennen es Reise. Wir nennen es ›Marsch des Todes‹«, sagte Shipshewano und blickte düster in die Glut. Etliche starben auf dem Treck an Hunger, Krankheit und Entbehrung. Der Marsch sollte sie Hunderte Meilen entfernt von ihrer Heimat in die Reservate nach Kansas bringen.
Im Herbst, sechs Wochen nach Beginn des Marsches, zogen sie an Palmyra vorbei und lagerten bei Pleasant Spring. Shipshewanos Eltern und zwei weiteren Familien gelang es, sich nachts unbemerkt aus dem Lager zu schleichen. Sie wollten nicht nach Kansas.
»In Kansas kennen wir nichts. In Kansas nichts, was wir wollen.«
Shipshewano und die anderen Flüchtlinge versteckten sich in den Wäldern, wechselten häufig ihren Lagerplatz, mieden die weit verstreut lebenden Farmer. Kein Weißer störte sich daran, weil sie friedlich waren und
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