Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
niemand Anspruch auf das Land erhob, in dem sie jagten, Fallen stellten, fischten und sammelten, was die Natur ihnen gab. Die bruchstückhaften Nachrichten, die sie aus den Reservaten in Kansas erhielten, bestärkten sie darin, zu bleiben, wo sie waren. Eine Rückkehr nach Indiana kam nicht infrage.
Von den ursprünglich zwölf Flüchtlingen waren noch Shipshewano, seine Frau Moweaqua und die beiden Alten übrig, die aus einer anderen Familie stammten. Kinder waren dazugekommen, viele andere durch Krankheit oder einen Unfall gestorben.
»Dann kommen euer Krieg, und man uns finden im Wald.«
Als Freischärler und reguläre Truppen sich in den Wäldern Gefechte lieferten und kampierten, wurden sie von Unionssoldaten gefunden. Der Captain der Truppe machte dem Häuptling ein Angebot: Shipshewanos Familie würde unbehelligt bleiben, wenn er und sein älterer Sohn Wabaunsee als Scouts für die Truppe arbeiten würden. Shipshewano hatte kaum eine Wahl. Aber die Rationen, die sie als Scouts von den Soldaten bekamen, halfen der Familie immerhin über die strengen Winter hinweg.
Nach dem Krieg hatte man in der Armee keine Verwendung mehr für Shipshewano und seinen Ältesten, und bei seinem letzten Besuch in St. Petersburg, wo er Vorräte kaufen wollte, hatte Shipshewano erfahren, dass der Wald, in dem sie lebten, an einen der Holzbarone in St. Petersburg verkauft worden war. Die Welt hatte sich verändert. Die Gegend, die zur Zeit des »Marschs des Todes« noch fast unberührte Wildnis gewesen war, wurde zunehmend von neuen Siedlern in Besitz genommen.
»Es dauert nicht mehr lange. Wir gehen und suchen neues Land. Land, das niemand will.«
Tom nickte. Er hatte nicht alles verstanden, immer wieder hatte der Häuptling indianische Worte benutzt. Aber Shipshewano erzählte gestenreich, und das Zeug in der Pfeife tat ein Übriges, sodass vor Toms Augen Bilder eines langen, elenden Trecks durch die Wildnis aufzogen und er drei Familien sah, die bei Nacht und Nebel vor ihren Bewachern davonschlichen und dann in den Wäldern jagten und sich ein neues Zuhause bauten.
»Warum kaufst du kein Land, Shipshewano? Und wirst Farmer? Dann kann euch niemand verjagen.«
Shipshewano schüttelte den Kopf, seine Augen waren unsagbar trüb und müde. »Für Land brauchen Geld, Tom Sawyer. Und wir keine Farmer. Shipshewano und Familie leben von Wald. Mit Wald. Wir bald fort.«
Tom nickte. Zu Beginn der Zeremonie – wenn es denn eine war – hatte er sich unbehaglich gefühlt. Mittlerweile war es ihm jedoch völlig gleich, dass er nur in eine Decke gehüllt bei den Rothäuten und deren Frauen saß und die Pfeife mit ihnen teilte. Er fühlte sich angenehm ausgeruht und entspannt, und die Schmerzen in seinem Körper ließen langsam nach.
»Erzähl mir von dem Dämon, der die Frauen holt«, bat er. »Wo hast du ihn gesehen? Wo hast du die toten Hunde gefunden, von denen du gesprochen hast?«
»Dämon sieht man nicht. Er überall zwischen St. Petersburg, Palmyra, Monroe und New London. Ich sagen, er ist Schatten hinter Baum. Er ist hinter Fels und dann nicht mehr. Er ist schnell. Sehr schnell. Wir finden Spuren von Stiefeln, Zweige brechen auf kleinen Pfaden, aber wir sehen nicht Mann.«
»Und die Hunde? Du glaubst, er hat sie getötet?«
Die Plage der streunenden Hunde, die St. Petersburg in den letzten Monaten heimgesucht hat, scheint ausgestanden zu sein, aber nun vermisst leider Mr Harbinson seinen Hund.
Das waren Beckys Worte gewesen. Sie hatte es ironisch gemeint. Aber vielleicht war es nicht so unwichtig, wie sie dachte.
Shipshewano rollte einen kleinen Kieselstein zwischen Daumen und Zeigefinger und nickte. »Der Bauch von Hunden ist mit Messer aufgeschlitzt. Alles voller Blut. Bauch leer, Böser Mann alles rausgeholt und neben toten Hund fallen lassen. Nicht gut.«
»Wo war das?«
»Wir finden tote Hunde in Wald bei Mississippi. In Süden von Mount Oliver bei St. Petersburg.«
Tom runzelte die Stirn. Er kannte die Gegend, sie war einer der Spielplätze seiner Kindheit gewesen, und erst vor wenigen Nächten war er auf dem Lovers’ Leap gewesen, hatte Dobbins’ wirkungslosen Tee getrunken und mit Hollis die Nacht durchwacht.
Im Süden des Lovers’ Leap schloss sich Mount Oliver an, und dort gab es ein enges Tal, fast eine Schlucht. Vor vielen Jahren hatte jemand namens Jack Sims im Winter die Spur eines Panthers verfolgt bis zu einer Felsspalte, die von Schutt und Geröll versperrt war. Sims entfernte die Steine und
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