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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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sagte er bei meinem nächsten Besuch zu mir, und es klang nicht, als wolle er sich dessen brüsten, sondern als stelle er lediglich eine Tatsache fest, «diese Leute hier wissen, daß ich Bachs gesamtes Orgel- und Gesangswerk kenne. Ich kenne alle Kirchenkantaten, alle zweihundertzwei, die Grove aufgeführt hat, und ich weiß, an welchen Sonn- und Feiertagen sie gesungen werden sollen. Dies ist die einzige Kirche in der Diözese, die ein richtiges Orchester und einen Chor hat, die einzige, in der alle Gesangswerke von Bach regelmäßig aufgeführt werden. Jeden Sonntag singen wir eine Kantate - und nächstes Ostern werden wir die ‹Matthäus-Passion› singen! »
    Ich fand es eigenartig und rührend, daß Martin, ein Retardierter, eine solche Leidenschaft für Bachs Musik empfand. Bach war so intellektuell - und Martin war ein Einfaltspinsel. Erst als ich bei meinen Besuchen Kassetten mit den Kantaten und einmal mit dem «Magnificat» mitbrachte, erkannte ich, daß Martins musikalische Intelligenz trotz all seiner intellektuellen Beschränktheit durchaus in der Lage war, einen großen Teil der technischen Komplexität des Bachschen Werks zu würdigen. Darüber hinaus merkte ich, daß Intelligenz in diesem Fall gar keine Rolle spielte. Für ihn war Bach lebendig, und er, Martin, lebte für ihn.
    Martin hatte tatsächlich «abnorme» musikalische Fähigkeiten - aber sie wirkten nur abnorm, wenn man sie isoliert von ihrem richtigen und natürlichen Kontext betrachtete.
    Was für Martin, wie vor ihm für seinen Vater, im Mittelpunkt stand und was jene tiefe Verbundenheit zwischen den beiden geschaffen hatte, war immer der Geist der Musik (besonders der religiösen Musik) und der Stimme gewesen, jenes göttlichen Instruments, dessen Aufgabe es ist, zu singen und sich zu Lob und Preis zu erheben.
    Sobald Martin zur Kirche und zur Musik zurückgekehrt war, begann er, sich zu verändern, er erholte sich, er sammelte sich, er wurde wieder wirklich. Die Pseudopersönlichkeiten - der gezeichnete Retardierte, der rotznasige, spuckende kleine Junge - verschwanden, und mit ihnen verschwand der aufreizende, emotionslose, unpersönliche Eidetiker. Der wirkliche Mensch kam wieder zum Vorschein: ein würdiger, anständiger Mann, den die anderen Bewohner des Heims jetzt respektierten und schätzten.
    Aber wirklich wunderbar war es, Martin zuzusehen, wenn er sang oder, eins geworden mit der Musik, mit einer an Verzückung grenzenden Hingabe lauschte - dann war er «ein Mann in seiner Ganzheit, ganz und gar anwesend». In diesen Augenblicken war Martin - wie Rebecca, wenn sie etwas auf der Bühne aufführte, oder Jose, wenn er zeichnete, oder die Zwillinge bei ihrem seltsamen Umgang mit Zahlen - mit einem Wort: wie ausgewechselt. Alles Fehlerhafte oder Pathologische fiel von ihm ab, und man sah nur einen versunkenen und beseelten, einen ganzen und gesunden Menschen.
Nachschrift
    Diese und die beiden folgenden Fallstudien schrieb ich aus schließlich auf der Grundlage eigener Erfahrungen. Ich kannte fast keine Literatur zu diesem Thema, ich wußte nicht einmal, daß es überhaupt eine umfangreiche Literatur dazu gab (siehe zum Beispiel die 52 Literaturangaben in Lewis Hill 1974). Erst als «Die Zwillinge» erschien und ich körbeweise Briefe und Separatdrucke erhielt, merkte ich, wie viele, oft widersprüchliche und faszinierende, Veröffentlichungen zu diesem Thema vorliegen.
    Vor allem eine gelungene und detaillierte Fallstudie von David Viscott (1970) erregte meine Aufmerksamkeit. Zwischen seiner Patientin Harriet G. und Martin gibt es viele Parallelen. Beide verfügten über außergewöhnliche Fähigkeiten, die sie manchmal in «azentrischer» und lebensverneinender Weise, manchmal hingegen als lebensbejahende und kreative Impulse einsetzten. So kannte Harriet die ersten drei Seiten des Bostoner Telefonbuchs, die ihr Vater ihr vorgelesen hatte, auswendig («und konnte noch Jahre später jede gewünschte Nummer, die auf diesen Seiten stand, aufsagen»), war aber andererseits auch erstaunlich kreativ; sie schrieb Musikstücke und konnte im Stil jedes Komponisten Melodien kreieren und improvisieren.
    Offenbar konnte man beide - wie auch die Zwillinge (siehe nächstes Kapitel) - zu jener Art von mechanischen Leistungen drängen, die als typisch für idiots savants gelten - Leistungen, die ebenso erstaunlich wie sinnlos sind. Beide aber (wie auch die Zwillinge) waren, wenn sie nicht gerade dem Druck von außen gehorchten oder den inneren

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