Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
gruben sich unauslöschlich in Martins Gedächtnis ein, das, obwohl er ein Analphabet war, unbegrenzt aufnahmefähig war. Von da an «hörte» er das Musiklexikon in der Stimme seines Vaters, und jede Erinnerung daran war mit Emotionen verbunden.
Solche erstaunlichen Hypertrophien des eidetischen Gedächtnisses scheinen manchmal, besonders wenn sie «professionell» angewendet oder genutzt werden, das wirkliche Ich zu verdrängen oder jedenfalls mit ihm zu konkurrieren und es in seiner Entwicklung zu behindern. Und wenn solche Erinnerungen keine Tiefe, kein Gefühl besitzen, so existiert in ihnen auch kein Schmerz. Daher können sie als «Fluchtweg» aus der Realität benutzt werden. Dies war bei Lurijas Mnemoniker offensichtlich in beträchtlichem Ausmaß der Fall und wird von Lurija im letzten Kapitel seines Buches über diesen Patienten eindringlich beschrieben. Und so verhielt es sich offenbar in gewisser Weise auch bei Martin A., Jose und den Zwillingen. In jedem dieser Fälle jedoch wurde das Gedächtnis auch zur Schaffung einer Realität, ja einer «Super-Realität» genutztes half dabei mit, die Welt mit einer außergewöhnlichen, mystischen und intensiv erlebten Bedeutung zu erfüllen...
Wie sah, abgesehen von seinem eidetischen Gedächtnis, seine Welt aus? Sie war in vieler Hinsicht klein, schäbig, häßlich und dunkel - die Welt eines Retardierten, der als Kind gehänselt und ausgeschlossen worden war und dem man als erwachsenem Mann verächtlich begegnete und nur drittklassige Jobs gab, die er bald darauf wieder verlor. Es war die Welt von jemandem, der sich selbst nur selten als vollwertigen Menschen empfunden beziehungsweise behandelt gefühlt hatte.
Er war oft kindisch, manchmal auch boshaft, und neigte zu plötzlichen Wutausbrüchen. Die Sprache, die er dann benutzte, war die eines Kindes. «Ich werf dir Baggermatsch ins Gesicht!» hörte ich ihn einmal schreien, und gelegentlich spuckte er andere an oder trat nach ihnen. Er schniefte, er wusch sich selten, er wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab, und dabei sah er aus wie ein kleines, schmuddeliges Kind (und zweifellos fühlte er sich auch so). Diese kindlichen Eigenarten, sein Mangel an zwischenmenschlicher Wärme und Freundlichkeit sowie die irritierende Prahlerei mit seinem eidetischen Gedächtnis verhinderten, daß er Freunde fand. Im Heim war er bald unbeliebt und wurde von vielen der Bewohner geschnitten. Eine Krise entwickelte sich - Martin regredierte mit jeder Woche, mit jedem Tag mehr. Anfangs waren alle ratlos.
Zunächst tat man das ganze Problem als «Anpassungsschwierigkeiten» ab, wie sie alle Patienten haben, die nach einem selbständigen Leben «draußen» in ein Heim kommen. Aber die Krankenschwester hatte das Gefühl, daß es hier um etwas Spezifischeres ging. «Irgend etwas zehrt an ihm, ein Hunger, ein nagender Hunger, den wir nicht stillen können. Es macht ihn kaputt», sagte sie. «Wir müssen etwas tun. »
Also suchte ich Martin im Januar ein zweites Mal auf- und fand einen völlig veränderten Menschen vor: Er war nicht mehr keck und eingebildet wie früher, sondern verzehrte sich vor Sehnsucht und wurde von seelischen und auch körperlichen Schmerzen gequält.
«Was ist los mit Ihnen?» fragte ich.
«Ich muß singen», sagte er mit heiserer Stimme. «Ohne das kann ich nicht leben. Und mir geht es nicht nur um die Musik - ohne Musik kann ich auch nicht beten. » Und dann, mit einem plötzlichen Aufblitzen seines alten Gedächtnisses, fuhr er fort: «‹Für Bach war Musik ein Hilfsmittel zum Gottesdienst› - Grove, Eintrag über Bach, Seite 304... Jeden Sonntag», fuhr er sanfter, nachdenklicher fort, «bin ich zur Kirche gegangen und habe im Chor gesungen. Zuerst mit meinem Vater und
dann, nach seinem Tod 1955, allein. Ich muß einfach», rief er erregt. «Ich sterbe, wenn ich nicht singen kann. »
«Natürlich können Sie in die Kirche gehen», antwortete ich. «Wir wußten nicht, daß Ihnen das so sehr fehlt. »
Die Kirche lag in der Nähe des Heims, und Martin wurde herzlich begrüßt - nicht nur als treues Mitglied der Gemeinde und des Chors, sondern als Leiter des Chors, der er, wie sein Vater vor ihm, gewesen war.
Von Stund an änderte sich sein Leben grundlegend. Martin hatte das Gefühl, den Platz, der ihm zukam, wieder eingenommen zu haben. Er konnte singen, er konnte jeden Sonntag durch Bachs Musik Gott dienen, und er konnte die stille Autorität genießen, die man ihm zugestand.
«Sehen Sie»,
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