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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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auf den Gedanken kommen, daß sie einmal als geistig behindert galt.
Nachschrift
    Die Macht von Musik, Erzählungen und Schauspielen ist von größter theoretischer und praktischer Bedeutung. Dies läßt sich selbst bei geistig Schwerbehinderten mit einem IQ von unter zwanzig beobachten, die motorisch extrem beeinträchtigt und verwirrt sind. Mit Musik oder Tanz verschwinden ihre ungeschlachten Bewegungen von einem Augenblick auf den anderen- plötzlich wissen sie, wie man sich bewegt. Man kann sehen, wie Retardierte, die nicht in der Lage sind, recht einfache Arbeiten auszuführen, sobald diese vier, fünf Bewegungen oder Abläufe erfordern, mit Musik ohne Schwierigkeiten arbeiten können - die Bewegungsabläufe, die sie sich schematisch nicht merken können, sind eingängig, wenn sie in Musik eingebettet sind. Dasselbe läßt sich bei Patienten feststellen, die an schweren Stirnlappenschäden und Apraxie leiden, die also unfähig sind, zu handeln, die einfachsten motorischen Abläufe und Programme zu behalten, ja sogar zu gehen, obwohl ihre Intelligenz in jeder anderen Hinsicht vollständig erhalten ist. Dieser Verfahrensdefekt, diese, wie man sagen könnte, motorische Debilität, die sich allen normalen Ansätzen zur Rehabilitation widersetzt, verschwindet sofort, wenn Musik eingesetzt wird. Dies ist zweifellos der Grund, oder einer der Gründe, für Arbeitslieder.
    Grundsätzlich sehen wir also, daß die Musik auf wirksame (und angenehme!) Weise zu strukturieren vermag, wo abstrakte oder schematische Formen von Organisation scheitern. Dies ist, wie nicht anders zu erwarten, besonders eindrucksvoll dort, wo keine andere Art der Organisation etwas bewirken kann. Daher ist Musik oder jede Art von narrativer Darstellung bei der Arbeit mit Retardierten oder Apraktikern unerläßlich - bei Therapie oder Unterricht muß die Musik oder etwas Gleichwertiges im Mittelpunkt stehen. Das Schauspiel bietet noch größere Möglichkeiten: Die Rolle kann eine Struktur und, für die Dauer der Darstellung, eine ganze Persönlichkeit vermitteln. Anscheinend ist die Fähigkeit, zu spielen, darzustellen, zu sein, dem Menschen, unabhängig von allen intellektuellen Unterschieden, «eingeboren». Das läßt sich an Kindern, an Senilen und besonders deutlich an Menschen wie Rebecca beobachten.
22
Ein wandelndes Musiklexikon
    Martin A., einundsechzig Jahre alt, kam Ende 1983 in unser Heim. Er litt an der Parkinsonschen Krankheit und konnte nicht mehr für sich selbst sorgen. In seiner Kindheit hatte er eine Gehirnhautentzündung gehabt, die fast tödlich verlaufen wäre und zu Retardierung, Impulsivität, Anfällen und einer halbseitigen Spastizität geführt hatte. Er besaß nur eine rudimentäre Schulbildung, hatte aber, da sein Vater ein berühmter Sänger an der Metropolitan Opera gewesen war, eine bemerkenswerte musikalische Ausbildung genossen.
    Bis zu ihrem Tod hatte er bei seinen Eltern gelebt, und danach fristete er ein kümmerliches Leben als Laufbursche, Pförtner und Koch in einem Schnellimbiß. Er nahm jeden Job an, den er bekommen konnte, wurde aber wegen seiner Langsamkeit, Verträumtheit oder Unfähigkeit jedesmal bald wieder gefeuert. Es wäre ein trübes, stumpfsinniges Leben gewesen, wenn er nicht eine herausragende musikalische Begabung und Empfindsamkeit besessen hätte, die ihm und anderen viel Freude bereitete.
    Er hatte ein erstaunliches musikalisches Gedächtnis - «Ich kenne mehr als zweitausend Opern», sagte er mir einmal -, obwohl er nie gelernt hatte, Noten zu lesen. Ob er es hätte lernen können, war nicht festzustellen, er hatte sich immer auf sein überragendes Gehör und auf seine Fähigkeit verlassen, eine Oper oder ein Oratorium nach einmaligem Anhören zu behalten. Leider war seine Stimme nicht so gut wie sein Ohr; sie war zwar voll, aber sehr rauh, und er litt an einer leichten spastischen Dysphonie. Seine angeborene, ererbte musikalische Begabung hatte die Meningitis und die damit verbundene Schädigung des Gehirns offenbar überstanden - oder nicht? Wäre ohne diese Krankheit ein Caruso aus ihm geworden? Oder war seine musikalische Entwicklung gewissermaßen eine «Kompensation» für den Hirnschaden und seine intellektuelle Beschränktheit? Wir werden es nie erfahren. Gewiß ist nur, daß ihm der Vater nicht nur eine musikalische Veranlagung, sondern - bedingt durch eine enge Vater-Sohn-Beziehung und vielleicht auch durch die besonders zärtliche Fürsorge, die Eltern einem behinderten Kind

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