Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
angedeihen lassen - seine eigene große Liebe für die Musik mit auf den Weg gab. Martin war unbeholfen und schwer von Begriff, aber sein Vater liebte ihn, so wie er seinen Vater leidenschaftlich liebte; ihre gegenseitige Liebe wurde gefestigt durch ihre gemeinsame Liebe zur Musik.
Martin konnte zu seinem großen Kummer nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten. Er überwand jedoch seinen Kummer und stellte fest, daß er durch das, was er konnte, viel Freude geben und erleben konnte. Selbst berühmte Musiker konsultierten ihn wegen seines phänomenalen Gedächtnisses, in dem nicht nur die Musik, sondern auch alle Einzelheiten der Aufführung gespeichert waren. Er genoß einen bescheidenen Ruhm als «wandelndes Lexikon», denn er kannte nicht nur zweitausend Opern, sondern auch alle Sänger, mit denen sie je besetzt gewesen waren, sowie alle Details, die Bühnenbild, Kostüme und Ausstattung betrafen. (Er war auch stolz darauf, daß er alle Straßen, alle Häuser, alle Bus- und U-Bahn-Linien von New York auswendig kannte.) Martin war, mit einem Wort, ein Opernnarr, und irgendwie auch ein idiot savant. Die Beschäftigung damit bereitete ihm - was zumeist der Fall ist bei Eidetikern und Menschen, die von einer bestimmten Sache geradezu besessen sind - eine gewisse kindliche Freude. Die wirkliche Erfüllung jedoch (und sie machte ihm das Leben erträglich) war es für ihn, an musikalischen Aufführungen teilzunehmen und in Kirchenchören zu singen (zu seinem Kummer konnte er wegen seiner Dysphonie nicht als Solist mitwirken), vor allem bei den großen Aufführungen zu Ostern oder zu Weihnachten. Seit fünfzig Jahren, als Junge wie als erwachsener Mann, wirkte er in den großen Kirchen und Kathedralen der Stadt bei den Aufführungen der «Johannes-Passion», der «Matthäus-Passion», des «Weihnachtsoratoriums» und des «Messias» mit. Diskret versteckt in den riesigen Chören der Wagner- und Verdi-Opern, hatte er auch in der Metropolitan Opera und, als diese abgerissen wurde, im Lincoln Center gesungen.
Bei solchen Gelegenheiten - besonders bei den Oratorien und Passionen, aber auch bei den bescheideneren Kirchengesängen und Chorälen - ging Martin völlig in der Musik auf und vergaß, daß er «retardiert» war, vergaß alles Niederdrückende und Schlechte in seinem Leben, spürte die Weite des Raumes, der ihn umschloß, und fühlte sich als ganzer Mensch und Kind Gottes.
Das war Martins Welt, seine innere Realität. Aber wie nahm er die Welt um sich herum wahr? Sein Wissen von der Welt, zumindest das lebendige, praktisch verwertbare Wissen, war sehr gering, und er hatte auch kein Interesse an dem Leben, das ihn umgab. Wenn man ihm eine Seite aus einer Enzyklopädie oder einer Zeitung vorlas, wenn man ihm eine Karte mit den Flüssen Asiens oder den U-Bahn-Linien von New York zeigte, dann wurde dies in seinem eidetischen Gedächtnis so fort festgehalten. Er konnte jedoch keine Beziehung zu diesen eidetischen Aufzeichnungen herstellen - sie waren, um Richard Wollheims Wort zu gebrauchen, «azentrisch», das heißt, sie besaßen kein lebendiges Zentrum, in, ihrem Mittelpunkt stand weder er noch ein anderer Mensch, noch irgendeine Sache. Diese Erinnerungen beinhalteten kaum Gefühle - nicht mehr Gefühle als ein Stadtplan von New York-, und es gab in ihnen keinerlei Verbindung, Verzweigung oder Verallgemeinerung. Sein eidetisches Gedächtnis, seine herausragende Besonderheit, gestaltete und vermittelte ihm also nicht einen Sinn der «Welt». Es besaß keine Geschlossenheit, kein Gefühl, keine Beziehung zu sich selbst. Man hatte den Eindruck, es sei physiologisch eher wie das Mark der Erinnerung oder wie eine Datenbank als der Bestandteil eines wirklichen und persönlichen lebendigen Ichs.
Aber auch hier gab es eine verblüffende Ausnahme, und dabei handelte es sich gleichzeitig um die gewaltigste, persönlichste und gottesfürchtigste Leistung seines Gedächtnisses: Er kannte Groves ‹Dictionary of Music and Musicians) auswendig, jenes umfangreiche, neunbändige Werk aus dem Jahre 1954 - er war sozusagen ein «wandelndes Musiklexikon». Sein Vater war damals alt und etwas kränklich geworden, konnte nicht mehr auftreten und verbrachte die meiste Zeit zu Hause. Dort hörte er sich seine große Sammlung von Opernplatten an, sang, zusammen mit seinem dreißigjährigen Sohn (es war die engste und liebevollste Beziehung ihres Lebens), alle seine Rollen und las die sechstausend Seiten des Lexikons laut vor. Sie
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