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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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festgestellt hat, daß es bei diesen Vorgängen nur um reines Rechnen geht.
    Ihr Zahlengedächtnis ist ungeheuerlich, vielleicht sogar un-
    begrenzt. Mit gleichbleibender Lässigkeit wiederholen sie drei-, dreißig- oder dreihundertstellige Zahlen. Auch diese Fähigkeit hat man einer «Methode» zugeschrieben.
    Wenn man jedoch ihre Rechenfähigkeit untersucht - die typische Domäne mathematischer Wunderkinder und «Kopfrechner» -, schneiden sie überraschend schlecht ab, so schlecht, wie es ihre IQs von sechzig auch nahelegen. Sie scheitern an einfachen Additionen oder Subtraktionen, und was Multiplizieren oder Dividieren bedeutet, können sie nicht einmal begreifen. Womit haben wir es zu tun: mit «Rechnern», die nicht rechnen können und die nicht einmal die einfachsten Grundbegriffe der Arithmetik beherrschen?
    Und doch nennt man sie «Kalenderrechner» - und man hat, praktisch ohne jede Begründung, unterstellt und akzeptiert, daß es hier nicht um das Gedächtnis geht, sondern um die Anwendung einer unbewußten Rechenmethode zur Kalenderberechnung. Wenn man daran denkt, daß sogar Carl Friedrich Gauß, einer der größten Mathematiker und ein Rechengenie, erhebliche Schwierigkeiten hatte, eine Berechnungsmethode für den Ostertermin zu finden, so ist es kaum glaubhaft, daß diese Zwillinge, die nicht einmal die einfachsten Grundregeln der Arithmetik beherrschen, eine solche Methode abgeleitet, ausgearbeitet und in Anwendung gebracht haben könnten. Es ist bekannt, daß sehr viele Rechenkünstler tatsächlich über ein großes Repertoire von Methoden und Berechnungstechniken verfügen, die sie für sich selbst ausgearbeitet haben. Vielleicht verleitete dieses Wissen W. A. Horwitz und seine Koautoren zu dem Schluß, daß dies auch auf die Zwillinge zutreffe.
    Steven Smith hat diese frühen Untersuchungen für bare Münze genommen. Er kommentiert: «Etwas Rätselhaftes, wenn auch Alltägliches ist hier am Werk - die mysteriöse Fähigkeit des Menschen, auf der Grundlage von Beispielen unbewußte Rechentechniken zu entwerfen. »
    Wenn das alles wäre, dann wären die Zwillinge tatsächlich etwas Alltägliches, und man könnte nicht von etwas Rätselhaftem reden, denn die Berechnung von Algorithmen, die ebensogut eine Maschine vornehmen kann, ist im wesentlichen mechanisch, fällt unter die Rubrik «Probleme» und hat mit «Rätseln» nichts zu tun.
    Und doch offenbart sich selbst in einigen ihrer Auftritte, ihrer «Tricks» eine Qualität, die den Betrachter stutzig macht. Die Zwillinge können uns für jeden Tag ihres Lebens (etwa von ihrem vierten Lebensjahr an) berichten, wie das Wetter war und welche Ereignisse stattgefunden haben. Ihre Art zu reden - Robert Silverberg hat sie in der Figur des Melangio genau festgehalten - ist gleichzeitig kindlich, detailbesessen und ohne Emotionen. Man nennt ihnen ein Datum, sie verdrehen einen Moment lang die Augen, blicken dann starr vor sich hin und erzählen mit flacher, monotoner Stimme vom Wetter, von den wenigen politischen Ereignissen, von denen sie gehört haben, und von Erinnerungen aus ihrem Leben - dazu gehören oft schmerzliche und tief eingebrannte Traumata der Kindheit, die Verachtung, der Hohn, die Erniedrigungen, die sie erleiden mußten. Doch all das erzählen sie in einem gleich bleibenden Ton, der nicht den kleinsten Hinweis auf persönliche Betroffenheit oder Gefühle gibt. Es geht hier offensichtlich um Erinnerungen «dokumentarischer» Art, in denen kein Bezug auf etwas Persönliches, keine persönliche Betroffenheit, kein lebendiges Zentrum existiert.
    Nun könnte man einwenden, daß persönliches Engagement und eigene Gefühle aus diesen Erinnerungen auf jene defensive Art und Weise gelöscht worden sind, die man bei schizoiden oder von Zwangsvorstellungen befallenen Patienten (beides trifft ganz sicher auf die Zwillinge zu) beobachten kann. Aber mit demselben, wenn nicht gar größeren Recht könnte man argumentieren, daß solche Erinnerungen überhaupt nie persönlicher Natur gewesen seien, denn eben dies ist der wesentliche Charakterzug eines eidetischen Gedächtnisses.
    Was nämlich hervorgehoben werden muß - und das ist allen bisherigen Beobachtern entgangen, für einen naiven Zuhörer aber, der die Bereitschaft mitbringt, sich in Erstaunen versetzen zu lassen,. durchaus offensichtlich-, ist die Größenordnung des Gedächtnisses der Zwillinge, sein offenbar grenzenloses Fassungsvermögen (so kindlich und banal der Inhalt auch sein mag) und

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