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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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sofort den Wochentag zu bestimmen, auf den ein Datum der entferntesten Vergangenheit oder Zukunft fiel. Dies ist die Meinung, die Steven Smith in seinem umfassenden und anregenden Buch ‹The Great Mental Calculators› (1983) vertritt. Seit Mitte der sechziger Jahre sind meines Wissens keine weiteren Untersuchungen über die Zwillinge mehr veröffentlicht worden - das kurze Interesse, das sie weckten, wurde durch die augenscheinliche «Lösung» der Probleme befriedigt, die sie aufgeworfen hatten.
    Doch dies ist, glaube ich, ein Mißverständnis, ein ganz naheliegendes vielleicht, denkt man an die stereotypen Ansätze, die festgelegte Zielsetzung der Fragen, die Beschränkung auf diese oder jene «Aufgabe», mit denen die damaligen Untersuchenden die Zwillinge konfrontierten und mit denen sie sie - ihre Psychologie, ihre Methoden, ihr Leben - fast auf ein Nichts reduzierten.
    Die Wirklichkeit ist weit rätselhafter, komplexer und unerklärlicher, als diese Studien nahelegen. Durch aggressive formale «Tests» jedoch läßt sich diese Realität ebensowenig enthüllen wie durch die immer gleichen Fragen in Fernseh-Talk-Shows.
    Die Frage ist nicht, ob diese Untersuchungen oder Fernsehauftritte «falsch» sind. Sie sind ganz vernünftig, manchmal, in Grenzen - auch informativ, aber sie beschränken sich auf die sicht- und untersuchbare «Oberfläche» und gehen nicht in die Tiefe, ja sie lassen nicht einmal andeutungsweise vermuten, daß eine solche Tiefe überhaupt existiert.
    Natürlich erhält man nur dann Hinweise auf diese Tiefen, wenn man aufhört, die Zwillinge zu testen und als «Untersuchungsgegenstand» zu betrachten. Man muß sich von diesem Drang, beständig einzugrenzen und auszufragen, befreien und die Zwillinge kennenlernen, sie beobachten, offen und ruhig, ohne Voreingenommenheit, aber mit einer uneingeschränkten und mitfühlenden phänomenologischen Aufgeschlossenheit für ihr Leben, ihr Denken und ihren Umgang miteinander. Man muß beobachten, wie sie spontan und auf die ihnen eigene Weise ihr Leben gestalten. Dann stellt sich heraus, daß hier etwas außerordentlich Mysteriöses am Werk ist, daß hier Kräfte und Abgründe einer möglicherweise fundamentalen Art existieren, die mir, obwohl ich die beiden nun schon seit achtzehn Jahren kenne, noch immer Rätsel aufgeben.
    Wenn man den beiden das erste Mal begegnet, wirken sie
    nicht sehr anziehend: Sie sind eine groteske Variante von Zwiddeldei und Zwiddeldum, nicht voneinander zu unterscheiden, Spiegelbilder, identisch im Gesicht, in den Körperbewegungen, in der Persönlichkeitsstruktur und in ihrem Wesen, identisch auch in Art und Ausmaß ihrer Hirn- und Gewebeläsionen. Sie haben zwergenhafte Körper mit beunruhigend unproportionierten Köpfen und Händen, Steilgaumen, hochgewölbte Füße, monotone, piepsende Stimmen, eine Vielzahl sonderbarer Tics und Eigenarten, dazu eine starke fortschreitende Kurzsichtigkeit, die sie zwingt, so dicke Brillen zu tragen, daß auch ihre Augen überdimensional erscheinen, wodurch sie aussehen wie absurde kleine Professoren, die mit einer unangebrachten, besessenen und lächerlichen Konzentration hierhin und dorthin starren und deuten. Dieser Eindruck verstärkt sich, sobald man sie befragt - oder es ihnen gestattet, ihrer Neigung nachzugeben und wie Marionetten puppen eine spontane «Standardaufführung» zu geben.
    Das ist das Bild, das durch die Veröffentlichungen über sie, durch ihre Bühnenauftritte - sie pflegen bei der alljährlichen Show der Klinik, in der ich arbeite, mitzuwirken - und durch ihre nicht gerade seltenen und ziemlich peinlichen Darbietungen im Fernsehen entstanden ist.
    Die unter diesen Umständen festgestellten «Tatsachen» sind wieder und wieder untersucht und überprüft worden. Die Zwillinge sagen: «Nennt uns ein Datum - irgendwann in den letzten oder den nächsten vierzigtausend Jahren. » Man ruft ihnen ein Datum zu, und fast sofort geben sie den Wochentag an, auf den es fällt. «Noch ein Datum!» rufen sie, und die Vorführung wiederholt sich. Sie können auch den Termin jedes beliebigen Osterfestes im Zeitraum dieser achtzigtausend Jahre nennen. Dabei kann man beobachten (was im übrigen normalerweise in den Berichten nicht erwähnt wird), daß sich ihre Augen auf eine ganz eigentümliche Weise bewegen - als betrachteten oder untersuchten sie eine innere Landschaft, einen geistigen Kalender. Sie machen den Eindruck des «Sehens», einer intensiven Visualisierung, obwohl man

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