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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Drang verspürten, diese Leistungen zu vollbringen, auf einer ständigen Suche nach Schönheit und Ordnung. Obwohl Martin ein erstaunliches Gedächtnis für wahllos herausgegriffene, unbedeutende Fakten hat, bereitet ihm die Erfahrung von Ordnung und Zusammenhang die größte Freude, sei es im musikalisch und religiös geordneten Aufbau einer Kantate, sei es in der enzyklopädischen Struktur des Musiklexikons. Sowohl Bach als auch dieses Lexikon vermitteln eine Welt. Martin - und auch Viscotts Patientin - steht keine andere Welt als die der Musik zur Verfügung. Aber diese Welt ist real; sie vermittelt ihm ein Gefühl der Wirklichkeit und vermag ihn umzuformen. Dies bei Martin zu beobachten ist eine wunderbare Erfahrung - und offenbar verhielt es sich mit Harriet G. genauso: «Diese plumpe, linkische Frau, diese zu groß geratene Fünfjährige, war wie umgewandelt, als sie auf meine Bitte im Rahmen eines Seminars im Boston State Hospital auftrat. Ernst nahm sie Platz, wartete ruhig, mit gesenktem Kopf, bis es still geworden war, und legte ihre Hände langsam auf die Tastatur, wo sie sie einen Moment lang ruhen ließ. Dann nickte sie und begann,mit dem Gefühl und der Ausdruckskraft einer Konzertpianistin zu spielen. Von dieser Sekunde an war sie ein anderer Mensch.»
    Man redet über idiots savants, als beherrschten sie einen aus gefallenen «Trick» oder besäßen eine Art mechanisches Talent, nicht aber ein echtes Verständnis oder wirkliche Intelligenz. In Martins Fall dachte ich zunächst auch so, bis ich ihm das «Magnificat» vorspielte. Erst da wurde mir bewußt, daß Martin in der Lage war, die ganze Komplexität dieses Werkes zu verstehen, und daß es sich hier nicht um einen Trick oder um ein bemerkenswertes Gedächtnis, sondern um eine echte und hochentwickelte musikalische Intelligenz handelte. Mein Interesse war daher sofort geweckt, als ich nach der ersten Veröffentlichung dieses Buches einen Aufsatz von L. K. Miller aus Chicago erhielt, in dem dieser die Ergebnisse einer eingehenden Untersuchung schildert, die an einem fünfjährigen Wunderkind vorgenommen worden war, das infolge einer Rötel-Erkrankung der Mutter körperlich und geistig schwer behindert ist. Die Studie bewies, daß hier kein in irgendeiner Weise mechanisches Gedächtnis vorlag, sondern «ein beeindruckendes Gefühl für die Regeln der Komposition, vor allem für die Rolle, die verschiedene Töne bei der Bestimmung von [diatonischen] Tonarten spielen... [was auf] eine implizite Kenntnis der Strukturregeln in einem generativen Sinne [hindeutet], das heißt Regeln, die nicht aufgrund eigener Erfahrungen aus spezifischen Beispielen abgeleitet sein können». Ich bin davon überzeugt, daß dies auch bei Martin der Fall ist und man muß sich fragen, ob es nicht für alle idiots savants gilt. Vielleicht beherrschen sie nicht nur irgendeinen mechanischen «Trick», sondern verfügen auf jenem besonderen Gebiet, auf dem sie sich hervortun (dem musikalischen, rechnerischen, visuellen oder irgendeinem anderen), über eine echte und kreative Intelligenz. Daß die Leistungen, die Martin, Jose oder die Zwillinge in einem bestimmten, wenn auch sehr eng umrissenen und besonderen Bereich an den Tag legen, auf Intelligenz beruhen, ist letztlich nicht bestreitbar. Und eben diese Intelligenz ist es, die erkannt und gefördert werden muß.
23
Die Zwillinge
    Als ich den Zwillingen John und Michael 1966 in einem staatlichen Krankenhaus zum erstenmal begegnete, waren sie bereits Berühmtheiten. Sie waren im Radio und im Fernsehen aufgetreten und Gegenstand eingehender wissenschaftlicher und eher populärer Darstellungen geworden. [22] Ich vermute, daß sie sogar Eingang in die Sciencefiction-Literatur gefunden haben, ein wenig «fiktionalisiert» zwar, im wesentlichen aber in den Umrissen, die die Veröffentlichungen von ihnen zeichneten. [23]
    Die Zwillinge waren damals sechsundzwanzig Jahre alt und seit ihrem siebten Lebensjahr immer in Heilanstalten gewesen. In den Diagnosen hatte man sie mal als autistisch, mal als psychotisch, mal als erheblich retardiert bezeichnet. Die meisten Berichte kamen zu dem Schluß, daß sie für das Thema idiots savants nicht viel hergaben, sah man einmal von ihren bemerkenswerten «dokumentarischen» Gedächtnissen ab, die noch die winzigsten visuellen Einzelheiten ihrer eigenen Erfahrungen festhielten, und von der Tatsache, daß sie eine unbewußte, kalendarische Rechenweise beherrschten, die sie in die Lage versetzte,

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