Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
damit auch die Art und Weise, in der die Erinnerungen hervorgeholt werden. Und wenn man sie fragt, wie sie so viel in ihrem Gedächtnis bewahren können - eine dreihundertstellige Zahl oder die Milliarde Ereignisse von vier Jahrzehnten -, so sagen sie ganz einfach: «Wir sehen es.» Und «Sehen» oder «Visualisieren» von ungeheurer Intensität, grenzenloser Ausdehnung und absoluter Exaktheit scheint der Schlüssel zu sein. Es geht offenbar um eine angeborene physiologische Fähigkeit ihres Verstandes, analog etwa der, über die der in A. R. Lurijas (The Mind of the Mnemonist› beschriebene Patient verfügte. Auch dieser «sah»; allerdings scheinen die Zwillinge nicht die Kunst der Zusammenführung und bewußten Organisierung der Erinnerungen entwickelt zu haben, die jener Patient so souverän beherrschte. Ich habe jedoch nicht den geringsten Zweifel, daß die Zwillinge ein gewaltiges Panorama überblicken, eine Art Landschaft oder Physiognomie von allem, was sie je gehört, gesehen, gedacht oder getan haben, und daß sie mit einem Augenzwinkern, nach außen sichtbar als ein kurzes Rollen und Fixieren der Augen, in der Lage sind, mit dem «geistigen Auge» fast alles zu erfassen und zu «sehen», was sich in dieser ungeheuren Landschaft befindet.
Eine solche Gedächtnisleistung ist sehr ungewöhnlich, aber kaum einzigartig. Wir wissen nichts oder nur sehr wenig dar über, warum die Zwillinge oder irgendjemand anders darüber verfügt. Steckt also, wie ich angedeutet habe, noch etwas in den Zwillingen, was unser Interesse in höherem Grade verdient? Ich glaube, ja.
Von Sir Herbert Oakley, der im 19. Jahrhundert in Edinburgh Professor für Musik war, wird berichtet, daß er einmal auf einem Bauernhof ein Schwein quieken hörte und sofort rief. «Gis! » Jemand lief zum Klavier - und tatsächlich, es war Gis. Mein erster Einblick in die «natürlichen» Fähigkeiten und die «natürlichen» Methoden der Zwillinge erfolgte auf eine ähnlich spontane und, wie ich fand, komische Art und Weise.
Eine Streichholzschachtel fiel vom Tisch, und der Inhalt lag verstreut auf dem Boden. «Hundertelf», riefen beide gleichzeitig; dann murmelte John: «Siebenunddreißig». Michael wiederholte das, John sagte es ein drittes Mal und hielt inne. Ich zählte die Streichhölzer - das dauerte einige Zeit -, und es waren einhundertelf.
«Wie konntet ihr die Hölzer so schnell zählen?» fragte ich sie. «Wir haben sie nicht gezählt», antworteten sie. «Wir haben die Hundertelfgesehen. »
Ähnliche Geschichten erzählt man sich von Zacharias Dase, dem Zahlenwunder, der sofort «Hundertdreiundachtzig» oder «Neunundsiebzig» rief, wenn ein Glas mit Erbsen ausgeschüttet wurde, und der, so gut er konnte - auch er war ein Einfaltspinsel -, klarzumachen versuchte, daß er die Erbsen nicht zählte, sondern ihre Zahl im ganzen, blitzartig, «sah».
«Und warum habt ihr ‹Siebenunddreißig› gemurmelt und das zweimal wiederholt?» fragte ich die Zwillinge. Sie sagten im Chor: «Siebenunddreißig, siebenunddreißig, siebenunddreißig, hundertelf »
Und dies fand ich noch verwirrender. Daß sie einhundertelf - die «Hundertelfheit» blitzartig «sehen» können sollten, war ungewöhnlich, aber vielleicht nicht ungewöhnlicher als Oakleys «Gis» - sozusagen eine Art «absolutes Gehör» für Zahlen. Doch dann hatten sie die Zahl Hundertelf noch in «Faktoren» zerlegt, ohne über eine Methode für diesen Vorgang zu verfügen, ja ohne (im üblichen Sinne) zu «wissen», was ein Faktor überhaupt ist. Hatte ich nicht bereits festgestellt, daß sie unfähig waren, auch nur die einfachsten Rechenvorgänge durchzuführen, und nicht «verstanden» (oder zu verstehen schienen), was multiplizieren oder teilen eigentlich bedeutet? Und doch hatten sie jetzt, ganz spontan, eine Zahl in drei Teile zerlegt.
«Wie habt ihr das herausbekommen?» fragte ich ziemlich erbost. Sie erklärten, so gut sie konnten, in armseligen, unzureichenden Begriffen - aber vielleicht gibt es hierfür auch gar keine passenden Worte -, sie hätten es nicht «herausbekommen», sondern es nur blitzartig «gesehen». Mit zwei ausgestreckten Fingern und seinem Daumen machte John eine Geste, die offenbar bedeuten sollte, daß sie die Zahl spontan dreigeteilt hätten oder daß sie ganz von selbst in diese drei gleichen Teile «zerbrochen» sei, wie durch eine plötzliche numerische «Spaltung». Meine Überraschung schien sie zu überraschen als sei ich irgendwie blind; und
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