Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Johns Geste vermittelte ein Gefühl unmittelbarer, direkt erlebter Realität. Ist es möglich, fragte ich mich, daß sie die Eigenschaften von Zahlen irgendwie «sehen» können, und zwar nicht auf begriffliche, abstrakte Art, sondern als Qualitäten, auf eine unmittelbare, konkrete Weise sinnlich und fühlbar? Und nicht nur isolierte Eigenschaften, wie «Hundertelfheit», sondern auch Eigenschaften der Beziehungen? Daß sie gar, ähnlich wie Sir Herbert Oakley, sagen könnten: «Eine Terz» oder «Eine Quinte»?
Durch die Gabe der Zwillinge, Ereignisse und Daten zu «sehen», hatte ich den Eindruck, daß sie in ihrem Gedächtnis eine riesige Erinnerungstapete, eine weite (vielleicht unendliche) Landschaft hatten, auf der alles zu sehen war, entweder isoliert oder in Beziehung zueinander. Beim Entfalten ihrer unerbittlichen, zufallsbestimmten «Dokumentationen» stand die Isolierung wohl mehr im Vordergrund als das Gefühl für Beziehungen. Doch könnte nicht eine derart erstaunliche Fähigkeit zur Visualisierung - eine im wesentlichen konkrete Fähigkeit und ganz deutlich von der Konzeptualisierung unterschieden - es den Zwillingen möglich machen, willkürliche oder signifikante Beziehungen zu sehen, formale Beziehungen oder Beziehungen zwischen Formen? Wenn sie auf einen Blick «Hundertelfheit» sehen konnten (wenn sie eine ganze «Konstellation» von Zahlen sehen konnten), sollten sie dann nicht auch auf einen Blick ungeheuer komplexe Zahlenformationen und -konstellationen sehen, erkennen, miteinander in Verbindung bringen und vergleichen können, und zwar auf eine ausschließlich sinnliche und nichtintellektuelle Art? - Eine lächerliche, zu Verkümmerung führende Fähigkeit - ich dachte an Borges' Figur Funes: «Wir nehmen mit einem Blick drei Gläser auf einem Tische wahr; Funes alle Triebe, Trauben und Beeren, die zu einem Rebstock gehören... Ein Kreis auf einer Schiefertafel, ein Rhombus sind Formen, die wir ganz und gar wahrnehmen können; ebenso erging es Funes mit den verwehten Haaren eines jungen Pferdes - mit einer Viehherde auf einem Hügel... Ich weiß nicht, wie viele Sterne er am Himmel sah. »
War es möglich, daß die Zwillinge mit ihrer eigenartigen Leidenschaft für Zahlen und ihrer Beherrschung von Zahlen,
daß diese Zwillinge, die auf einen Blick «Hundertelfheit» gesehen hatten, in ihrem Geist vielleicht einen aus Zahlen bestehenden «Rebstock» erfassen konnten, mit all den Zahlen Blättern, Zahlen-Zweigen, Zahlen-Früchten, aus denen er besteht? Ein befremdlicher, vielleicht absurder, fast unmöglicher Gedanke - aber was sie mir gezeigt hatten, war ohnehin schon so seltsam, daß es mein Verständnis fast überstieg, und doch erschien es mir nur wie eine Andeutung dessen, wozu sie fähig waren.
Ich dachte über die Sache nach, aber das Nachdenken brachte mich kaum weiter. Und dann vergaß ich es - bis zu einer zweiten, sich spontan entwickelnden Situation, einem magischen Geschehen, in das ich ganz zufällig hineinstolperte.
Diesmal saßen sie zusammen in einer Ecke, mit einem rätselhaften, heimlichen Lächeln auf ihren Gesichtern, einem Lächeln, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie schienen ein seltsames Vergnügen, einen seltsamen Seelenfrieden gefunden zu haben und zu genießen. Ich näherte mich ihnen vorsichtig, um sie nicht zu stören. Es hatte den Anschein, als seien sie in eine einzigartige, rein numerische Unterhaltung vertieft. John nannte eine Zahl, eine sechsstellige Zahl. Michael griff die Zahl auf, nickte, lächelte und schien sie sich gewissermaßen auf der Zunge zergehen zu lassen. Dann nannte er seinerseits eine andere sechsstellige Zahl, und nun war es John, der sie entgegennahm und auskostete. Von weitem sahen sie aus wie zwei Connaisseurs bei einer Weinprobe, die sich an einem seltenen Geschmack, an erlesenen Genüssen ergötzen. Verwirrt und wie gebannt saß ich, ohne von ihnen bemerkt zu werden, ganz still da.
Was machten sie da? Was in aller Welt ging da vor? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Vielleicht war es eine Art Spiel, aber es hatte etwas Bedeutungsvolles, eine Art von heiterer, meditativer und fast heiliger Intensität, wie ich sie bislang bei keinem gewöhnlichen Spiel beobachtet und bei den normalerweise aufgeregten und zerstreuten Zwillingen ganz sicher nie zuvor gesehen hatte. Ich begnügte mich da mit, die Zahlen aufzuschreiben, die sie hervorbrachten -jene Zahlen, die ihnen ein so offensichtliches Vergnügen bereiteten, die sie
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