Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
«abwogen», genossen, miteinander teilten. Auf dem Heimweg fragte ich mich, ob diese Zahlen irgendeine Bedeutung haben konnten, einen «realen» oder universalen Sinn, oder ob dieser Sinn (wenn es ihn überhaupt gab) lediglich einer Schrulligkeit, einer privaten Übereinkunft entsprang, wie bei den «Geheimsprachen», die Geschwister manchmal erfinden. Ich dachte an die Zwillinge, die Lurija studiert hatte - Ljoscha und Jura, hirngeschädigte und sprachbehinderte eineiige Zwillinge, die in einer primitiven, babbelnden Sprache miteinander schwatzten, die nur sie allein verstanden (Lurija und Judowitsch 1970). John und Michael gebrauchten nicht einmal Worte oder halbe Worte sie warfen sich lediglich Zahlen zu. Handelte es sich dabei sozusagen um «Borgessche» oder «Funessche» Zahlen, um numerische Rebstöcke oder Pferdemähnen, oder waren dies private Zahlenformen und Konstellationen - eine Art von numerischem Slang -, deren Bedeutung nur die Zwillinge kannten?
Zu Hause beugte ich mich über Tabellen von Logarithmen, Potenzen, Faktoren und Primzahlen - Erinnerungen und Relikte einer eigenartigen, einsamen Periode meiner eigenen Kindheit, in der auch ich über Zahlen gebrütet, Zahlen «gesehen» und für Zahlen eine ganz besondere Leidenschaft empfunden hatte. Die Vorahnung, die ich bereits gehabt hatte, wurde nun zur Gewißheit: Alle Zahlen, jene sechsstelligen Zahlen, die die Zwillinge untereinander ausgetauscht hatten, waren Primzahlen - das heißt Zahlen, die nur durch eins oder durch sich selbst zu teilen sind. Hatten die Zwillinge ein Buch wie das meine gesehen oder besessen, oder konnten sie auf eine unerklärliche Weise selbst Primzahlen «sehen», etwa so, wie sie die Hundertelfheit oder die dreifache Siebenunddreißig «gesehen» hatten? Ganz sicher konnten sie sie nicht errechnet haben - sie konnten überhaupt nichts errechnen.
Am nächsten Tag besuchte ich sie wieder in ihrer Abteilung. Mein Buch mit den Tabellen und Primzahlen hatte ich mitgebracht. Wieder fand ich sie in ihrer Zahlenandacht vereint, aber diesmal setzte ich mich, ohne ein Wort zu sagen, zu ihnen. Zuerst waren sie überrascht, aber als ich sie nicht unterbrach, nahmen sie ihr «Spiel» mit sechsstelligen Primzahlen wieder auf. Nach einigen Minuten beschloß ich, ebenfalls mitzuspielen, und nannte eine achtstellige Primzahl. Beide wandten sich mir zu und schwiegen plötzlich. Auf ihren Gesichtern lag ein Zug von intensiver Konzentration und vielleicht auch Erstaunen. Es entstand eine lange Pause - die längste, die ich sie je hatte machen sehen, sie muß eine halbe Minute oder länger gedauert haben-, und dann begannen sie plötzlich gleichzeitig zu lächeln.
Nach einer rätselhaften gedanklichen Prüfung hatten sie mit einem mal meine eigene achtstellige Zahl als Primzahl erkannt, und das bereitete ihnen offenbar eine große Freude, eine doppelte Freude: einmal, weil ich sie mit einem verlockenden neuen Spielzeug bekannt gemacht hatte, einer Primzahl, der sie noch nie zuvor begegnet waren, und zum zweiten, weil es ganz offensichtlich war, daß ich erkannt hatte, was sie taten, daß es mir gefiel, daß ich es bewunderte und mich daran beteiligen konnte.
Sie rückten ein Stück auseinander, um mir, dem neuen Zahlenspielkameraden, dem dritten in ihrer Welt, Platz zu machen. Dann dachte John, der immer die Führung übernahm, eine lange Zeit nach mindestens fünf Minuten lang, während deren ich mich nicht zu rühren wagte und kaum atmete - und nannte eine neunstellige Zahl; nach einer ebenfalls langen Pause antwortete sein Zwillingsbruder Michael mit einer ähnlichen Zahl. Als nun die Reihe wieder an mir war, warf ich heimlich einen Blick in mein Buch und steuerte meinen eigenen, ziemlich unehrlichen Beitrag bei: eine zehnstellige Primzahl, die ich in den Tabellen gefunden hatte.
Wieder und noch länger als zuvor herrschte verwundertes Schweigen. Nach eingehender Kontemplation nannte John schließlich eine zwölfstellige Zahl. Ich konnte sie weder überprüfen noch mit einer eigenen Zahl antworten, denn mein Buch - das meines Wissens einmalig in seiner Art war - hörte bei zehnstelligen Primzahlen auf. Aber Michael war der Herausforderung gewachsen, wenn er auch fünf Minuten dafür brauchte - und eine Stunde später tauschten die Zwillinge zwanzigstellige Primzahlen aus. Das jedenfalls nahm ich an,
denn ich besaß keine Möglichkeit, diese Zahlen zu überprüfen. Das war damals, im Jahre 1966, auch gar nicht so einfach, sofern man
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