Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
«betrachtete er aufmerksam die Zahl der Schritte; nach einem schönen Musikstück erklärte er, die zahllosen Töne, die die Musik hervorgebracht habe, hätten ihn über die Maßen verwirrt, und er besuchte sogar Mr. Garrick, nur um die Worte zu zählen, die jener aussprach, was ihm, wie er behauptete, vollkommen gelungen sei».
Dies ist ein hübsches, wenn auch extremes Beispielpaarein Musiker, der Zahlen in Musik, und ein Rechner, der Musik in Zahlen umwandelt. Man findet wohl selten so entgegenge setzte Arten oder Bedingungen des Bewußtseins. [24]
Ich glaube, daß die Zwillinge, die ja überhaupt nicht rechnen können, mit ihrem außerordentlichen «Gefühl» für Zahlen in dieser Beziehung eher Ähnlichkeit mit Toch als mit Buxton haben. Allerdings mit einer Ausnahme, und diese Ausnahme können normale Menschen wie wir uns nur schwer vorstellen: Die Zwillinge «übertragen» Zahlen nicht in Musik, sondern können sie in sich selbst erfühlen, und zwar als «Formen», als «Töne», wie die vielfältigen Formen, die in der Natur vorkom- men. Sie sind keine Rechner, und ihr Verhältnis zu Zahlen ist «ikonisch». Sie beschwören seltsame Zahlenszenen, in denen sie sich wie zu Hause fühlen; sie wandern ungezwungen durch riesige Zahlenlandschaften; sie erschaffen, wie Drama-
tiker, eine ganze Welt von Zahlen. Vermutlich verfügen sie über eine einzigartige Phantasiezu deren Besonderheiten
es gehört, daß sie sich ausschließlich in Zahlen entwickelt. Anscheinend «operieren» sie nicht mit Zahlen wie ein Rechner; sie «sehen» sie unmittelbar, ikonisch, wie eine gewaltige Naturszene.
Fragt man nun weiter, ob es zu diesem «Ikonozismus» wenigstens eine Analogie gibt, dann wird man diese, glaube ich, am ehesten im Geist bestimmter Wissenschaftler finden. Dimitrij Mendelejew zum Beispiel trug stets, auf Karten niedergeschrieben, die Zahlenangaben der Elemente mit sich, bis sie ihm so vertraut waren, daß er sie nicht mehr als Summe ihrer Eigenschaften betrachtete, sondern (in seinen eigenen Worten) als «vertraute Gesichter». Von da an sah er die Elemente ikonisch, physiognomisch, als «Gesichter», die miteinander verwandt waren, wie die Mitglieder einer Familie, und die, in toto und periodisch zusammengefügt, das formale Gesicht der Erde darstellten. Ein solcher wissenschaftlicher Geist ist im wesentlichen «ikonisch» und «sieht» die gesamte Natur als Gesichter und Szenen, vielleicht auch als Musik. Wenn diese innere «Vision» mit dem Phänomenalen verschmilzt, behält sie trotzdem ein integrales Verhältnis zur Welt der Materie; und wenn dieser Vorgang umgekehrt, von der Sphäre des Psychischen in die des Physikalischen, verläuft, entsteht die sekundäre oder externe Arbeit einer solchen Wissenschaft. («Der Philosoph sucht den Gesamtklang der Welt in sich tönen zu lassen», schreibt Nietzsche, «und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen. ») Ich glaube, daß die Zwillinge, auch wenn sie schwachsinnig sind, den Gesamtklang der Welt hören - aber sie hören ihn nur in Zahlen.
Unabhängig von der Intelligenz ist die Seele «harmonisch», und für manche, wie zum Beispiel Wissenschaftler und Mathe matiker, ist der Sinn für Harmonie wohl in erster Linie durch den Intellekt bestimmt. Dennoch kann ich mir nichts Intellektuelles vorstellen, das nicht auch irgendwie sinnerfüllt ist - wie ja auch das Wort «Sinn» immer diese doppelte Bedeutung hat. Es muß also sinnerfüllt und in gewisser Weise auch «persönlich» sein, denn man kann nichts empfinden, nichts «sinnvoll» finden, wenn es nicht auf irgendeine Weise mit der eigenen Person verknüpft oder verknüpfbar ist. So stellen Bachs mächtige Klanggebäude nicht nur für Martin A. «eine hieroglyphische und dunkle Lektion über die ganze Welt» dar, sondern sind auch ein erkennbarer, einmaliger, inniger Teil von Bachs Persönlichkeit. Auch Martin A. spürte dies deutlich und verknüpfte es mit der Liebe, die er für seinen Vater empfand.
Die Zwillinge haben, glaube ich, nicht nur eine merkwürdige «Fähigkeit», sondern auch eine Sensibilität für Harmonien, die der Musik vielleicht sehr nahe liegt. Man könnte deshalb natürlich von einer «pythagoreischen» Sensibilität sprechen - verblüffend ist nicht, daß es sie gibt, sondern daß sie offenbar so selten vorkommt. Vielleicht ist das Bedürfnis, eine letztgültige Harmonie oder Ordnung zu finden oder zu erfühlen, ein universales Streben des Geistes, ganz gleich, welche Fähigkeiten er
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