Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
nicht über einen hochentwickelten Computer verfügte. Und selbst dann wäre es schwierig gewesen, denn es gibt keine einfache Art, Primzahlen zu errechnen - ganz gleich, ob man das Sieb des Eratosthenes benutzt oder irgendeine andere Rechenweise. Es gibt keine einfache Methode, Primzahlen in dieser Größenordnung zu errechnen - und doch taten die Zwillinge genau das. (Vgl. jedoch die Nachschrift.)
Wieder dachte ich an Dase, von dem ich vor Jahren in Frederic William Henry Myers' faszinierendem Buch Human Personality› (1903) gelesen hatte: «Wir wissen, daß es Dase (der vielleicht erfolgreichste dieser Zahlenkünstler) in ungewöhnlichem Maße an mathematischem Verständnis mangelte... Dennoch fertigte er in zwölf Jahren Tabellen der Faktoren und Primzahlen für die siebte und fast die ganze achte Million an - diese Leistung hätten nur wenige Menschen ohne mechanische Hilfsmittel innerhalb eines ganzen Lebens zustande gebracht. »
Man kann ihn daher, schreibt Myers, als den einzigen Mann bezeichnen, der sich um die Mathematik verdient gemacht hat, ohne die Grundrechenarten zu beherrschen.
Was Myers nicht klärt und was vielleicht auch nicht zu klären war, ist die Frage, ob Dase nach einer Methode arbeitete oder ob er (und einfache «Zahlensehen»-Experimente deuteten daraufhin) diese großen Primzahlen irgendwie «sah», wie es bei den Zwillingen offenbar der Fall war.
Während ich die Zwillinge still beobachtete, was für mich nicht schwierig war, da ich auf ihrer Station mein Büro hatte, erlebte ich sie in zahllosen anderen Zahlenspielen oder Zahlendialogen. Worum es dabei genau ging, konnte ich weder feststellen noch erraten.
Es dürfte jedoch wahrscheinlich, wenn nicht sogar sicher sein, daß sie mit «realen» Eigenschaften umgehen, denn der Zufall - zum Beispiel beliebig herausgesuchte Zahlen - bereitet ihnen kein oder nur ein sehr geringes Vergnügen. Ganz bestimmt müssen ihre Zahlen für sie einen «Sinn» ergeben-ähnlich vielleicht dem, den die Harmonie für einen Musiker hat.
Unwillkürlich vergleiche ich sie mit Musikern- oder mit dem ebenfalls retardierten Martin (Kapitel 22), der in den heitergelassenen, großartigen Klanggebäuden Bachs eine Manifestation der letzten Harmonie und Ordnung der Welt fand, einer Harmonie, die ihm wegen seiner intellektuellen Beschränktheit begrifflich nicht zugänglich war.
‹Jeder, der harmonisch gebildet ist», schreibt Sir Thomas Browne, «ergötzt sich an Harmonie... und am tiefen Nachsinnen über den Höchsten Komponisten. Es ist in ihr mehr Göttliches, als sich dem Ohr erschließt; sie ist eine hieroglyphische und dunkle Lektion über die ganze Welt... ein spürbarer Anklang an jene Harmonie, die in den Ohren Gottes klingt... Die Seele... ist harmonisch und neigt am meisten der Musik zu. »
In ‹The Thread of Life› (1984) zieht Richard Wollheim einen scharfen Trennstrich zwischen Berechnungen und jenen Phänomenen, die er «ikonische» Bewußtseinszustände nennt, und er nimmt auch gleich mögliche Einwände gegen diese Trennung vorweg: «Man könnte gegen die Tatsache, daß alle Berechnungen nichtikonisch sind, einwenden, daß der Rechnende bisweilen seine Rechnungen optisch auf ein Blatt Papier wirft. Doch das ist kein Gegenbeispiel. Denn in einem solchen Fall wird nicht die Rechnung selbst dargestellt, sondern eine Repräsentation derselben; gerechnet wird in Zahlen, visualisiert werden dagegen Chiffren, die Zahlen darstellen. »
Von Leibniz dagegen stammt eine verlockende Analogie zwischen Zahlen und Musik: Das Vergnügen, schreibt er, das uns die Musik bereite, rühre vom unbewußten Zählen. Musik sei nichts als unbewußte Arithmetik.
Was also können wir über die Lage sagen, in der sich die Zwillinge und vielleicht noch andere befinden? Lawrence Weschler, der Enkel des Komponisten Ernst Toch, erzählte mir, sein Großvater habe sich eine sehr lange Zahlenkette nach einmaligem Hören sofort merken können, und zwar indem er diese Zahlenkette in eine Melodie «umwandelte» (wobei jeder Zahlenwert einer bestimmten Tonhöhe entsprach). Jedediah Buxton, einer der umständlichsten und zugleich beharrlichsten Arithmetiker aller Zeiten, ein Mann mit einer veritablen, ja pathologischen Leidenschaft für das Rechnen und für Zahlen (wie er selbst sagte, konnte ihn «das Kalkulieren trunken» machen), pflegte Musik und Schauspiel in Zahlen «umzusetzen». «Während des Tanzes», heißt es in einem Bericht aus dem Jahre 1754 über ihn,
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