Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
besitzt und welche Gestalt diese Harmonie da bei annimmt. Die Mathematik wurde seit jeher die «Königin der Wissenschaften» genannt, und Mathematiker haben die Zahl stets als das große Geheimnis betrachtet und die Welt als eine auf geheimnisvolle Weise durch die Macht der Zahlen organisierte Sphäre gesehen. Sehr schön drückt Bertrand Russell dies im Vorwort zu seiner (Autobiographie› aus: «Mit gleicher Leidenschaft habe ich nach Erkenntnis gestrebt. Ich wollte das Herz der Menschen ergründen. Ich wollte begreifen, warum die Sterne scheinen. Ich habe die Kraft zu erfassen gesucht, durch die nach den Pythagoreern die Zahl den Strom des Seins beherrscht.»
Es mag etwas befremdlich erscheinen, diese schwachsinnigen Zwillinge mit einem Intellekt, einem Geist wie dem von Bertrand Russell zu vergleichen. Dennoch ist dieser Vergleich nicht so weit hergeholt. Die Zwillinge leben ausschließlich in einer Gedankenwelt, die von Zahlen beherrscht wird. Die Herzen der Menschen oder das Funkeln der Sterne interessieren sie nicht. Und doch, so glaube ich, sind Zahlen für sie nicht «nur» Zahlen, sondern Bedeutungen, Boten, deren «Botschaft» die Welt ist.
Sie gehen nicht, wie die meisten Rechner, leichten Herzens an Zahlen heran. Sie interessieren sich nicht für das Rechnen, sie haben kein Verständnis, keine Begabung dafür. Statt dessen sind für sie Zahlen Gegenstand heiterer Betrachtungen - sie treten ihnen mit Respekt und Ehrerbietung entgegen. Für sie sind Zahlen heilig, bedeutungsträchtig. Sie sind ihr Mittel - wie die Musik für Martin A. -, das Wirken des Höchsten Komponisten zu begreifen.
Doch Zahlen sind für die Zwillinge nicht nur ehrfurchtgebietend, sie sind auch Freunde - vielleicht die einzigen Freunde, die ihnen in ihrem isolierten, autistischen Leben begegnet sind. Unter zahlenbegabten Menschen ist dies im übrigen eine recht weit verbreitete Empfindung - und Steven Smith, für den «die Methode» alles andere an Bedeutung übertrifft, gibt viele berückende Beispiele dafür an: etwa George Parker Bidder, der über seine frühe Kindheit schrieb: «Zahlen bis Hundert waren mir völlig vertraut, sie wurden sogar meine Freunde, und ich kannte alle ihre Verwandten und Bekannten»; oder der indische Mathematiker Shyam Marathe, ein Zeitgenosse Bidders: «Wenn ich sage, Zahlen seien meine Freunde, dann meine ich, daß ich mich irgendwann in der Vergangenheit einmal mit einer bestimmten Zahl auf verschiedene Arten beschäftigt und bei verschiedenen Gelegenheiten neue und faszinierende Eigenschaften herausgefunden habe, die in ihr verborgen waren. Wenn ich also bei einer Rechnung auf eine bekannte Zahl stoße, dann betrachte ich sie sofort als einen Freund. »
Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Musik weist Hermann von Helmholtz darauf hin, daß zusammengesetzte Töne tatsächlich analysiert und in ihre Bestandteile zerlegt werden können, daß sie normalerweise aber als Qualitäten, als einzigartige Klangqualitäten und als ein unteilbares Ganzes gehört werden. Er spricht von einer «synthetischen Wahrnehmung», die die Analyse übersteigt und die unanalysierbare Essenz aller musikalischen Empfindung ist. Er vergleicht diese Klänge mit Gesichtern und stellt die Vermutung an, daß wir sie auf dieselbe, persönliche Art und Weise erkennen wie Gesichter. Für das Ohr seien Töne - und ganz gewiß Melodien - tatsächlich «Gesichter» und könnten als solche von ihm sofort als «Personen» («Persönlichkeiten») erkannt werden. Ein solches Erkennen setze Zuneigung, Gefühl und eine persönliche Beziehung voraus.
So scheint es auch denen zu gehen, die Zahlen lieben. Auch Zahlen können wie vertraute Gesichter wiedererkannt werden - und das unvermittelte, intuitive, persönliche Gefühl dabei ist: «Ich kenne dich!»* [25] Der Mathematiker Wim Klein: «Zahlen sind sozusagen meine Freunde. Für Sie ist das nicht so, stimmt's? Zum Beispiel 3844-für Sie ist das bloß eine 3, eine 8, eine 4 und noch eine 4. Ich aber sage: ‹Hallo, 622!x»
Ich glaube, daß die scheinbar so isolierten Zwillinge in einer Welt voller Freunde leben, daß sie Millionen, Milliarden von Zahlen haben, denen sie ein freundliches «Hallo» zurufen und die ganz gewiß dieses «Hallo» zurückgeben. Aber keine dieser Zahlen ist zufällig - wie 622 -, und soweit ich feststellen konnte, stoßen die Zwillinge auf sie (hier liegt das Geheimnis), ohne die herkömmlichen Methoden oder überhaupt eine Methode anzuwenden. Sie scheinen
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