Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
sich der direkten Erkenntnis zu bedienen - wie die Engel. Sie sehen, ganz unmittelbar, ein Universum, einen Himmel voller Zahlen. Und das verhilft ihnen, so einzigartig, so bizarr es auch sein mag - aber was gibt uns das Recht, hier von einem «pathologischen» Befund zu reden? -, zu einer außerordentlichen Selbstgenügsamkeit und Heiterkeit, die zu zerstören tragisch ausgehen könnte.
    Zehn Jahre später wurde diese Heiterkeit zerstört. Man beschloß, daß die Zwillinge «zu ihrem eigenen Besten» getrennt werden sollten, um ihre «ungesunden Zwiegespräche» zu unterbinden und sie (wie es im medizinsoziologischen Jargon hieß) «in die Lage zu versetzen, ihrer Umwelt in einer sozial akzeptablen, angemessenen Art entgegenzutreten». So wurden sie 1977 getrennt, was zu Ergebnissen führte, die man entweder als befriedigend oder beklagenswert ansehen kann. Beide wurden in «halboffene Anstalten» verlegt und verrichteten dort unter strenger Aufsicht für ein Taschengeld niedere Arbeiten. Sie können jetzt sogar mit dem Bus fahren, wenn man ihnen sorgfältige Anweisungen und einen Fahrschein gibt. Sie können sich außerdem relativ sauber und präsentabel halten, obwohl man natürlich ihre Debilität immer noch auf den ersten Blick erkennt.
    Dies sind die positiven Aspekte der Bilanzaber es gibt auch eine negative Seite (die in ihren Krankengeschichten nicht auf taucht, weil sie nie erkannt worden ist). Ohne ihren wechselseitigen «Austausch» von Zahlen, ohne Zeit und Gelegenheit für Kontemplation oder überhaupt irgendeine Form des Austausches - man treibt sie ständig von einer Arbeit zur nächsten - haben sie offenbar ihre merkwürdige numerische Kraft verloren und damit auch ihre größte Freude und den Sinn ihres Lebens. Allerdings scheint man das für einen angemessenen Preis dafür zu halten, daß die beiden jetzt fast unabhängig und «sozial akzeptabel» sind.
    Man fühlt sich unwillkürlich an die Behandlung erinnert, die Nadia zugedacht war, einem autistischen Kind mit einer phä-nomenalen Zeichenbegabung (siehe Kapitel 24). Auch Nadia wurde einer Therapie unterzogen, die darauf abzielte, «ihre inneren Kräfte auf anderen Gebieten zu maximieren». Das Ergebnis war, daß sie zu reden begann - und aufhörte zu zeichnen. Nigel Dennis kommentiert: «Wir haben jetzt ein Genie, dem man den Genius genommen hat, so daß nichts weiter übrig ist als eine umfassende geistige Behinderung. Was soll man von einer derart sonderbaren Therapie halten?»
    Man sollte hinzufügen - Myers ist in seinem Kapitel über Genies, das er mit einer Betrachtung von «Zahlenwundern» beginnt, auch schon darauf eingegangen -, daß jene Fähigkeit «seltsam» ist und daß sie ebensogut plötzlich verschwinden kann, obwohl sie gewöhnlich ein Leben lang anhält. Für die Zwillinge ging es natürlich nicht nur um die «Fähigkeit», sondern um das seelische und emotionale Zentrum ihres Lebens. Nun sind sie getrennt, nun ist die Fähigkeit verloren und damit auch der Lebenssinn, der Kernpunkt ihres Daseins.* [26]
Nachschrift
    Als ich Israel Rosenfield das Manuskript zu diesem Kapitel vorlegte, wies er mich daraufhin, daß es auch andere Arten der Arithmetik gibt, die sowohl höher als auch einfacher sind als die «konventionelle» Arithmetik der Rechenoperationen. Er warf die Frage auf, ob die einzigartigen Fähigkeiten (und Behinderungen) der Zwillinge nicht darauf beruhen könnten, daß sie sich einer solchen «Modularithmetik» bedienten. In einer Notiz an mich äußerte er die Vermutung, daß Modulrechenverfahren jener Art, wie sie Ian Steward im dritten Kapitel seines Buches (Concepts of Modern Mathematics) (1975) beschreibt, die kalendarischen Fähigkeiten der Zwillinge erklären könnten:
    «Ihre Fähigkeit, den Wochentag eines bestimmten Datums innerhalb eines Zeitraumes von 80.000 Jahren zu bestimmen, deutet auf ein relativ einfaches Rechenverfahren hin: Man teilt einfach die Summe der Tage zwischen dem heutigen und dem gewünschten Tag durch sieben. Wenn kein Rest bleibt, fällt das Datum auf denselben Wochentag wie der heutige Tag, wenn ein Rest von eins bleibt, fällt das Datum auf den folgenden Wochentag usw. Bedenken Sie, daß die Modularithmetik zyklisch ist: Sie besteht aus sich wiederholenden Mustern. Vielleicht visualisierten die Zwillinge. diese Muster, sei es in Form einfach konstruierter Tabellen, sei es in Form einer ‹Landschaft›, wie der in Stewards Buch auf Seite 30 abgebildeten Spirale der ganzen

Weitere Kostenlose Bücher