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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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der Sonne entgegenreckten. Der Löwenzahn war seine Blume - genau so fühlte er sich, und um das auszudrücken, begann er, einen Stengel mit einer Blüte zu zeichnen. Das Bedürfnis, diese Blume darzustellen, ihr seine graphische Referenz zu erweisen, war stark und unmittelbar: Er kniete nieder, legte seinen Block auf den Boden und malte den Löwenzahn, den er in der Hand hielt.
    Dies war vermutlich Joses erste Zeichnung nach der Natur, seit sein Vater ihn als Kind, vor seiner Krankheit, auf seine Ausflüge mitgenommen hatte. Es ist ein genaues und lebendiges Bild und gibt seine Liebe für die Realität, für eine andere Lebensform unmittelbar wieder. Für mich hat es einige Ähnlichkeit mit den genauen Abbildungen, die man in mittelalterlichen Pflanzen- und Kräuterbüchern findet, und steht ihnen in nichts nach: Es ist anspruchsvoll und botanisch exakt, auch wenn Jose über keine formalen botanischen Kenntnisse verfügt und diese auch nicht erlernen oder verstehen könnte. Sein Geist ist nicht für das Abstrakte, das Begriffliche geschaffen. Dieser Weg zur Wahrheit bleibt ihm verschlossen. Aber er besitzt eine Leidenschaft, eine echte Veranlagung für das Erkennen von Eigenarten, er genießt sie, er geht auf sie ein, er bildet sie nach und erschafft sie neu. Und Eigenarten, wenn sie nur eigenartig genug sind, sind ebenfalls ein Weg - man könnte sagen: der Weg der Natur - zu Realität und Wahrheit.

    Das Abstrakte und Kategorielle ist für Autisten nicht von Interesse - ihr Augenmerk gilt ausschließlich dem Konkreten, dem Besonderen, dem Einzigartigen. Dies ist immer wieder auffallend, ganz gleichgültig, ob es für den jeweiligen Patienten eine Frage der Fähigkeit oder der Neigung ist. Da sie das Allgemeine nicht sehen können oder wollen, scheint das Welt bild von Autisten ausschließlich auf der Beobachtung von Besonderheiten zu beruhen. Sie leben also nicht in einem Universum, sondern (um einen Ausdruck von William James zu gebrauchen) in einem «Multiversum», das aus unzähligen, genau erfaßten und mit einer leidenschaftlichen Intensität erlebten Einzelheiten besteht. Diese Art zu denken steht im krassen Gegensatz zur verallgemeinernden, wissenschaftlichen Denkweise. Dennoch ist sie, wenn auch auf ganz andere Art, ebenso «real» wie diese.
    Eine solche Denkweise führt Borges in seiner Geschichte «Funes el Memorioso» (in der sich zahlreiche Anklänge an Lurijas (The Mind of a Mnemonist› finden) vor: «Vergessen wir nicht, daß er zu Gedanken allgemeiner, platonischer Art fast unfähig war... Funes' überfüllte Welt bestand nur aus
    Einzelheiten, die fast unmittelbar gegenwärtig waren... Niemand... war je der Hitze und dem Druck einer so unermüdlichen Realität ausgesetzt, wie sie Tag und Nacht über den unseligen Ireneo hereinbrach. »
    Dasselbe wie für Borges' Ireneo Funes gilt auch für Jose. Aber dieser Zustand ist nicht unbedingt beklagenswert - die Wahrnehmung von Einzelheiten kann mit einer tiefen Befriedigung verbunden sein, besonders wenn ihnen, wie dies bei Jose der Fall zu sein scheint, ein sinnbildlicher Glanz eigen ist.
    Ich glaube, daß Jose, so einfältig und autistisch er auch sein mag, eine solche Begabung für das Konkrete, die Form, besitzt, daß er auf seine Art ein Naturforscher und geborener Künstler ist. Für ihn besteht die Welt aus Formen, unmittelbar und intensiv erlebten Formen, die er erfaßt und reproduziert. Er hat eine ausgeprägte Begabung für naturalistische, aber auch für symbolische Darstellungen. Er kann Blumen und Fische mit bemerkenswerter Genauigkeit wiedergeben, er kann sie aber auch so zeichnen, daß sie Personifikationen, Symbole, Träume oder Witze sind. Und dabei heißt es, Autisten hätten nichts Spielerisches, nichts Künstlerisches und keine Phantasie!
    Für die Menschheit existieren Autisten wie Jose einfach nicht. Auch autistische «Wunderkinder» wie Nadia wurden nie zur Kenntnis genommen. Sind sie tatsächlich so selten, oder werden sie nur übersehen? In einem brillanten Essay über Nadia, der im New York Review of Books (4. Mai 1978) erschien, wirft Nigel Dennis die Frage auf, wie viele «Nadias» als lediglich verrückt abgetan oder übersehen werden, wie viele ihrer bemerkenswerten Werke zerrissen werden und wie viele von ihnen, wie Jose, wir gedankenlos als vereinzelte, irrelevante, verirrte Talente abtun, die kein weiteres Interesse verdienen. Aber der autistische Künstler - oder (um es weniger hochtrabend auszudrücken) das

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