Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Mitarbeiter des Pflegepersonals, obwohl er sie, wohl zwangsläufig, mit Leuten aus seiner Vergangenheit verwechselte. Die Pflegeschwester des Heims mochte er besonders gern; er erkannte ihre Stimme und ihren Gang sofort, behauptete aber immer, sie sei eine seiner Mitschülerinnen auf der High-School gewesen, und war höchst erstaunt, wenn ich sie mit «Schwester» anredete.
«Donnerwetter!» rief er dann. «Es passieren wirklich die merkwürdigsten Sachen. Ich hätte nie gedacht, daß du mal religiös werden würdest, Schwester! »
Seitdem er in unser Heim gebracht wurde - also seit Anfang des Jahres 1975 -, ist Jimmie nie in der Lage gewesen, irgend jemanden über einen längeren Zeitraum hinweg zu erkennen. Der einzige, bei dem ihm das gelingt, ist sein Bruder aus Oregon, der ihn gelegentlich besucht. Es ist rührend, ihn bei diesen sehr gefühlsbetonten Begegnungen zu beobachten- es sind die einzigen mit Gefühlen erfüllten Momente des Zusammenseins mit einem Menschen in seinem heutigen Leben. Er liebt seinen Bruder und erkennt ihn auch, kann jedoch nicht verstehen, warum er so alt aussieht. «Na ja, ich schätze, manche Leute altern schneller», sagt er. Dabei wirkt sein Bruder viel jünger, als er in Wirklichkeit ist; er hat die Art von Gesicht und Statur, die sich mit den Jahren wenig verändert. Es sind echte Begegnungen, Jimmies einzige Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und doch vermitteln sie ihm kein Gefühl von Geschichte oder Kontinuität. Sie bestätigen lediglich - seinem Bruder und anderen, die die beiden zusammen sehen -, daß Jimmie immer noch gewissermaßen versteinert ist und in der Vergangenheit lebt.
Wir alle hegten anfangs große Hoffnungen, Jimmie helfen zu können. Er war so sympathisch, so aufgeweckt und intelligent, daß es schwer fiel zu glauben, sein Leiden könne unheilbar sein. Aber keinem von uns war je ein solcher Fall begegnet. Eine derart umfassende Amnesie, die Möglichkeit, daß es ein Loch geben könnte, in dem alles, jede Erfahrung spurlos verschwindet, ein Gedächtnisloch, das die ganze Welt verschluckt, hatte sich keiner von uns auch nur vorstellen können.
Nach der ersten Untersuchung schlug ich vor, er solle ein Tagebuch führen und dazu angehalten werden, sich jeden Tag Notizen über seine Erfahrungen, seine Gefühle, Gedanken, Erinnerungen und Betrachtungen zu machen. Dies scheiterte zunächst daran, daß er das Tagebuch ständig verlor: Es mußte irgendwie an ihm befestigt werden. Aber auch dann war diesem Versuch kein Erfolg beschieden. Er machte sich zwar pflichtschuldig jeden Tag kurze Notizen, vermochte aber die früheren Einträge nicht mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Er erkannte seine Schrift und seinen Stil, war aber immer verwundert, wenn er feststellte, daß er am Tag zuvor etwas geschrieben hatte.
Er zeigte sich verwundert - aber auch gleichgültig, denn er war ein Mann, für den es praktisch kein Gestern gab. Seine Eintragungen blieben zusammenhangslos und konnten ihm kein Gefühl für Zeit oder Kontinuität vermitteln. Darüber hinaus bezogen sie sich auf triviale Ereignisse - «Zum Frühstück Eier», «Ein Baseballspiel im Fernsehen» -und gingen nie in die Tiefe. Und doch verfügte dieser Mann ohne Gedächtnis über Tiefen, in denen Gefühle und Gedanken wohnten - oder war er tatsächlich zu einer Art von Humeschem Wesen geworden, hilflos einer wirren Abfolge von Eindrücken und Ereignissen ausgeliefert?
Jimmie war sich dieses gravierenden Verlustes, den er erlitten hatte, des Verlustes seiner selbst, bewußt und gleichzeitig auch nicht bewußt. (Wenn jemand ein Bein oder ein Auge verloren hat, so weiß er das; aber wenn er ein Selbstsich selbst verloren hat, dann kann er das nicht wissen, denn es ist nichts mehr da, das den Verlust empfinden könnte.) Daher konnte ich ihn über diese Dinge nicht auf intellektueller Ebene befragen.
Bei unserer ersten Begegnung hatte er sein Erstaunen dar über zum Ausdruck gebracht, daß er von Patienten umgeben war, während er sich doch, wie er sagte, nicht krank fühlte. Wie aber, so fragten wir uns, fühlte er sich dann? Er war muskulös und durchtrainiert, verfügte über eine fast animalische Kraft und Energie, zeigte aber auch eine seltsame Trägheit, Passivität und (wie jeder bemerkte) «Gleichgültigkeit»; wir alle hatten das deutliche Gefühl, daß ihm «etwas fehlte», ob wohl er auch dies, wenn er es überhaupt merkte, mit jener «Gleichgültigkeit» hinnahm. Eines Tages sprach
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