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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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die Worte des Hypnotiseurs zu behalten. (M. Homonoff, der auf der Amnesie-Station des Boston Veterans Administration Hospitals gearbeitet hat, berichtete mir von ähnlichen Erfahrungen. Seiner Meinung nach ist dies charakteristisch für Menschen, die am Korsakow-Syndrom leiden, im Gegensatz zu Patienten mit psychogener Amnesie.)
    «Ich habe weder den Eindruck noch Beweise dafür, daß es sich hier um psychogene oder ‹simulierte› Ausfälle handelt», schrieb die Psychiaterin. «Es fehlt ihm sowohl an Möglichkeiten als auch an einem Motiv, eine solche Fassade aufzubauen. Seine Gedächtnisausfälle sind organisch, permanent und unkorrigierbar. Es ist allerdings verblüffend, daß sie sich so weit in die Vergangenheit erstrecken. » Da sie der Meinung war, er sei «unbekümmert», zeige «keine besonderen Ängste» und habe «kein Problem, sein Leben zu regeln», konnte sie keine Lösungsmöglichkeiten anbieten und keinen therapeutischen «Zugang» oder «Ansatz» erkennen.
    Ich war zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, daß wir es mit einem «reinen» Korsakow-Syndrom zu tun hatten, das nicht weiter durch andere Faktoren emotionaler oder organischer Art kompliziert wurde, und bat deshalb Lurija in einem Brief um seine Meinung. In seiner Antwort schrieb er von seinem Patienten Bel [7] , dessen Amnesie den Zeitraum der letzten zehn Jahre ausgelöscht hatte. Er sehe keinen Grund, warum eine solche retrograde Amnesie sich nicht über Jahrzehnte oder fast ein ganzes Leben erstrecken sollte. «Ich kann nur auf die retrograde Amnesie warten, die ein ganzes Leben auslöschen kann», schrieb Bunuel. Aber Jimmies Amnesie hatte, aus welchen Gründen auch immer, die Erinnerung an den Zeitraum seit 1945 getilgt und war dort stehengeblieben.
    Gelegentlich entsann er sich eines Ereignisses, das viel später stattgefunden hatte, aber diese Erinnerung war dann bruchstückhaft und einer falschen Zeit zugeordnet. Einmal, als er das Wort «Satellit» in einer Schlagzeile sah, erwähnte er nebenbei, er habe, während er auf dem Schiff «Chesapeake Bay» Dienst tat, an einem Projekt mitgewirkt, bei dem es um die Funküberwachung von Satelliten ging. Dieses Gedächtnisfragment mußte aus dem Anfang oder der Mitte der sechziger Jahre stammen. Alles in allem lag der Einschnitt bei ihm jedoch in der Mitte oder gegen Ende der vierziger Jahre, und alle späteren Erinnerungen, die gelegentlich auftauchten, waren unvollständig und zusammenhanglos. Das gilt für 1975 ebenso wie für heute, neun Jahre später.
    Was konnten wir tun? Was sollten wir tun? «Für einen Fall wie diesen gibt es kein Rezept», schrieb Lurija. «Lassen Sie sich von Ihrem Verstand und von Ihrem Herzen leiten. Es gibt keine, oder nur wenig, Hoffnung auf eine Wiederherstellung seines Gedächtnisses. Aber ein Mensch besteht nicht nur aus dem Gedächtnis. Er verfügt auch über Gefühle und Empfindungen, über einen Willen, über moralische Grundsätze - Dinge, über die die Neuropsychologie kein Urteil fällen kann. Und in diesem Bereich, jenseits der unpersönlichen Psychologie, finden Sie vielleicht eine Möglichkeit, ihn zu erreichen und eine Veränderung herbeizuführen. In Ihrem Fall lassen die äußeren Umstände dies ja zu, denn Sie sind in einem Heim tätig, das wie eine kleine Welt aufgebaut ist und sich sehr von den Kliniken und Anstalten, in denen ich arbeite, unterscheidet. In neuropsychologischer Hinsicht können Sie wenig oder nichts tun, aber in der Sphäre des Individuellen können Sie viel erreichen. »
    Lurij a wies auf seinen Patienten Kur hin, der ein ungewöhnliches Bewußtsein seiner selbst besitze, in dem sich Hoffnungslosigkeit mit einem sonderbaren Gleichmut mische.
    «Ich habe keine Erinnerung an die Gegenwart», sage er. «Ich weiß nicht, was ich gerade getan habe oder wo ich gerade gewesen bin... Ich kann mich sehr gut an meine Vergangenheit erinnern, aber ich habe keine Erinnerung an die Gegenwart. » Wenn man ihn fragte, ob er die Person, die ihn untersuchte, schon einmal gesehen habe, antwortete er: «Ich kann weder ja noch nein sagen, ich kann weder bestätigen noch bestreiten, daß ich Sie je gesehen habe. » Auch Jimmie verhielt sich bisweilen so; und er begann wie Kur, der viele Monate im selben Krankenhaus blieb, «eine gewisse Vertrautheit» zu entwickeln: Er lernte langsam, sich im Heim zurechtzufinden, das heißt, er wußte, wo der Speisesaal, sein eigenes Zimmer, der Aufzug und das Treppenhaus war, und erkannte irgendwie auch einige

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