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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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allerdings läßt sich durch solche Untersuchungen nicht nachweisen. Wir erhielten einen Bericht von der Marine, aus dem hervorging, daß er dort bis 1965 gedient und alle ihm zugewiesenen Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erfüllt hatte.
    Danach bekamen wir einen knappen, unfreundlichen Bericht des Bellevue Hospitals, der aus dem Jahre 1971 stammte. In ihm hieß es, Jimmie G. sei «völlig desorientiert» und leide an «einem fortgeschrittenen organischen Gehirn-Syndrom in folge von Alkoholmißbrauch» (zu dieser Zeit hatte er auch eine Leberzirrhose). Vom Bellevue Hospital hatte man ihn in ein heruntergekommenes sogenanntes «Pflegeheim» in Greenwich Village überwiesen, aus dem er 1975 unterernährt und verlaust herausgeholt und in unser «Heim für die Alten» gebracht worden war.
    Wir spürten seinen Bruder auf, von dem Jimmie erzählt hatte, er besuche eine Wirtschaftsfachschule und sei mit einem Mädchen aus Oregon verlobt. Er hatte dieses Mädchen geheiratet, war Vater und Großvater geworden und arbeitete seit dreißig Jahren als Buchhalter.
    Von diesem Bruder hatten wir uns eine Fülle von Informationen und eine gewisse Anteilnahme versprochen, erhielten jedoch nur einen höflichen, aber ziemlich unergiebigen Brief. Aus ihm ging - besonders, wenn man zwischen den Zeilen las - hervor, daß die Brüder sich seit 1943 nur selten gesehen hat ten und - zum Teil bedingt durch die räumliche Entfernung und ihre unterschiedliche berufliche Orientierung, zum Teil aber auch auf Grund einer starken (wenn auch nicht entfremdenden) Verschiedenheit ihrer Temperamente - getrennte
    Wege gegangen waren. Jimmie, so schien es, hatte sich nie «irgendwo niedergelassen», war «unbekümmert» und «immer schon ein Trinker» gewesen. Sein Bruder schrieb, die Marine habe Jimmies Leben Halt und Inhalt gegeben, und die wirklichen Probleme hätten erst begonnen, als er 1965 seinen Abschied nahm. Ohne die gewohnte Disziplin habe er auf gehört zu arbeiten, er sei «zerbrochen» und habe angefangen, übermäßig zu trinken. Mitte und besonders Ende der sechziger Jahre seien bei Jimmie einige Gedächtnislücken (von der Art, wie Korsakow sie beschreibt) aufgetreten, die aber nicht so schlimm gewesen seien, daß Jimmie nicht auf nonchalante Weise mit ihnen habe «fertig werden» können. Seine Trunksucht habe sich jedoch im Verlauf des Jahres 1970 verstärkt.
    Irgendwann um Weihnachten dieses Jahres war Jimmie, nach Ansicht seines Bruders, «ausgeflippt» und in eine Art Delir, einen Zustand verwirrter Erregtheit, verfallen. Dies war der Zeitpunkt seiner Einlieferung in das Bellevue Hospital gewesen. Im Laufe des nächsten Monats klangen Delir und Erregtheit ab, aber er behielt tiefgreifende und bizarre Gedächtnisstörungen oder «Ausfälle», um den medizinischen Ausdruck zu gebrauchen, zurück. Damals besuchte ihn sein Bruder- sie hatten sich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen - und mußte feststellen, daß Jimmie ihn nicht erkannte. Er sprach ihn wie einen Fremden an: «Machen Sie keine Witze! Sie sind alt genug, mein Vater zu sein. Mein Bruder ist ein junger Mann, er besucht eine Wirtschaftsfachschule. »
    Nachdem ich all diese Informationen erhalten hatte, war ich noch ratloser als zuvor: Warum konnte sich Jimmie nicht an die späteren Jahre in der Marine erinnern, und warum entsann er sich nicht der Zeit bis 1970? Ich hatte zu jener Zeit noch nicht davon gehört, daß es in solchen Fällen zu einer retrograden Amnesie kommen kann (siehe Nachschrift). «Ich frage mich immer mehr», schrieb ich damals, «ob hier nicht eine hysterische oder passagere Amnesie im Spiel ist - ob er nicht vor etwas flieht, das so schrecklich ist, daß er sich nicht daran erinnern will», und schlug vor, er solle von unserer Psychiaterin untersucht werden. Ihr Bericht war gründlich
    und detailliert. Im Verlauf der Untersuchung hatte sie Jimmie auch Natriumamytal verabreicht, eine Chemikalie, die möglicherweise unterdrückte Gedächtnisinhalte «freisetzt». In der Hoffnung, Zugang zu Erinnerungen zu bekommen, die infolge einer hysterischen Reaktion verdrängt worden waren, hatte die Ärztin sogar versucht, Jimmie in einen hypnotischen Zustand zu versetzen -in Fällen von hysterischer Amnesie hat diese Methode oft Erfolg. Bei Jimmie jedoch schlugen diese Versuche fehl, denn es war unmöglich, ihn zu hypnotisieren, und zwar nicht wegen eines «Widerstandes», sondern wegen seiner extremen Amnesie, die es ihm unmöglich machte,

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