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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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wäre vielleicht ein besseres Wort dafür. Manchmal
    bricht sie unter dem Druck zusammen - nicht vor anderen Leuten, aber bei mir. «Wenn ich nur etwas fühlen könnte! » schreit sie. «Aber ich habe vergessen, wie das ist... Ich war doch ganz normal, oder? Ich konnte mich doch wirklich wie alle anderen bewegen. »
    Ja, selbstverständlich. »
    «Das ist gar nicht selbstverständlich. Ich kann es nicht glauben. Ich will Beweise. »
    Ich zeige ihr einen Film, auf dem sie mit ihren Kindern zu sehen ist. Er wurde ein paar Wochen vor ihrer Erkrankung aufgenommen.
    «Ja, das bin ich!» Christina lächelt, aber dann sagt sie mit verzweifelter Stimme: «Aber ich kann mich mit dieser graziösen Frau nicht mehr identifizieren! Sie ist weg, ich kann mich an sie nicht erinnern, ich kann sie mir nicht einmal mehr vor stellen. Es ist, als hätte man mir etwas entfernt, etwas aus meinem Zentrum. Das macht man doch mit Fröschen, stimmt's? Man entfernt ihnen das Rückenmark, man höhlt sie aus... Genau das ist es: Ich bin ausgehöhlt, wie ein Frosch... Kommen Sie, meine Herrschaften, treten Sie ein, und sehen Sie Chris, das erste ausgehöhlte menschliche Wesen. Sie hat keine Eigenwahrnehmung, kein Gefühl für sich selbst - Chris, die ausgehöhlte Frau, die Frau ohne Körper! » Sie bricht in ein haltloses, fast hysterisches Lachen aus. Ich beruhige sie, während ich denke: Hat sie vielleicht recht?
    Denn in gewisser Hinsicht ist sie tatsächlich «ausgehöhlt» und körperlos, eine Art Gespenst. Sie hat mit ihrer Eigenwahrnehmung auch die grundlegende, organische Verankerung der Identität verloren - jedenfalls die der körperlichen Identität, des «Körper-Ichs», das für Freud die Grundlage des Selbst war: «Das Ich ist vor allem ein körperliches. » Eine solche De-Personalisation oder De-Realisation tritt immer auf, wenn die Körperwahrnehmung oder das Körperbild tiefgreifend gestört ist. Silas Weir Mitchell machte diese Entdeckung, als er im amerikanischen Bürgerkrieg Amputierte und nervengeschädigte Patienten behandelte. Die einzigartige, berühmte und quasifiktionalisierte Beschreibung dieser Situation, die er seinem Arzt/Patienten George Dedlow in den
    Mund legt, ist immer noch die beste und phänomenologisch akkurateste, die es gibt: «Zu meinem Schrecken stellte ich fest, daß ich manchmal meiner selbst, meiner eigenen Existenz weniger bewußt war als früher. Dieses Gefühl war so ungewohnt, daß ich zunächst sehr bestürzt war. Ich hätte am liebsten andauernd irgend jemand gefragt, ob ich wirklich George Dedlow war oder nicht; aber da ich sehr gut wußte, wie lächerlich ich mich durch eine solche Frage machen würde, unterließ ich es, über meinen Fall zu sprechen, und konzentrierte mich mehr darauf, meine Gefühle zu analysieren. Zuzeiten war die Überzeugung, ich sei nicht ich selbst, überwältigend und äußerst schmerzhaft. Es war- besser kann ich es nicht beschreiben- ein Fehlen der egoistischen Empfindung von Individualität. »
    Auch für Christina existiert dieses allgemeine Gefühl - dieses «Fehlen der egoistischen Empfindung von Individualität» -, auch wenn es im Laufe der Zeit durch die Gewöhnung abgenommen hat. Und es existiert ein spezifisches, organisch begründetes Gefühl der Körperlosigkeit, das noch ebenso stark und unheimlich ist wie am ersten Tag. Dieses Gefühl haben beispielsweise auch Menschen, bei denen das Rückenmark weit oben durchtrennt ist - aber sie sind natürlich gelähmt, während Christina sich, auch wenn sie «körperlos» ist, bewegen kann.
    Es verschafft ihr vorübergehend Erleichterung, wenn ihre Haut stimuliert wird. Wann immer sie Gelegenheit dazu hat, geht sie ins Freie; sie genießt es, in einem offenen Wagen zu fahren, wo sie den Wind auf ihrem Körper spüren kann (die Empfindung der Haut für leichte Berührung ist nur wenig beeinträchtigt). «Es ist herrlich», sagt sie. «Ich spüre den Wind auf der Haut, auf den Armen und im Gesicht, und dann merke ich undeutlich, daß ich tatsächlich Arme und ein Gesicht habe. Es ist nicht das echte Gefühl, aber es ist immerhin etwas - es nimmt eine Zeitlang diesen schrecklichen Todesschleier von mir.»
    Aber ihre Situation ist und bleibt eine «Wittgensteinsche». Sie weiß nicht: «Hier ist eine Hand» - ihr Verlust der Eigenwahrnehmung, der Afferenz, hat sie ihrer existentiellen Grundlage von Erkenntnis beraubt - und nichts, was sie tut oder denkt, kann daran etwas ändern. Sie kann sich ihres Körpers nicht gewiß

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