Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
irgend etwas nicht in Ordnung, und sie wird wahrscheinlich auch nie mehr auf natürlichem Wege so werden, wie sie einmal war... »
Es war gut, daß Christina von Anfang an so viel innere Stärke besaß, denn obwohl die akute Entzündung abklang und die Werte der Rückenmarksflüssigkeit sich wieder normalisierten, blieben die propriozeptiven Nervenfasern dauerhaft geschädigt, so daß in den acht Jahren, die seitdem vergangen sind, keine Besserung eingetreten ist. Doch ist es ihr durch Umstellungen gelungen, ein fast normales Leben zu führen - Umstellungen, die nicht nur neurologischer Natur sind, sondern sich auf ihr gesamtes Gefühlsleben und Wertesystem erstrecken.
In der ersten Woche tat Christina nichts. Sie lag teilnahmslos da und aß kaum etwas. Sie war verzweifelt, in einem tiefen Schock befangen. Was für ein Leben lag vor ihr, wenn ihre Eigenwahrnehmung so grundlegend gestört blieb? Was für ein Leben würde das sein, in dem jede Bewegung bewußt überwacht werden mußte? Und vor allem: Was für ein Leben erwartete sie, wenn sie das Gefühl hatte, keinen Körper zu besitzen? Aber das Leben behauptete sich - Christina begann, sich zu bewegen. Zuerst konnte sie nichts tun, ohne ihre Augen zugebrauchen: Sobald sie sie schloß, brach sie hilflos zusammen. Sie mußte sich mit Hilfe ihrer Augen überwachen und auf je den Teil ihres Körpers, den sie bewegte, mit fast schmerzhafter Konzentration und Sorgfalt achten. Die Bewegungen, die sie bewußt kontrollierte und steuerte, wirkten zunächst unbeholfen und künstlich. Aber dann - und hier waren wir beide angenehm überrascht von der Macht eines täglich zunehmenden Automatismus - wurden ihre Bewegungen immer feiner, graziöser und natürlicher (wenn auch Christina dabei noch stets auf ihre Augen angewiesen war).
Mit jeder Woche wurde das normale, unbewußte Feedback der Eigenwahrnehmung immer mehr von einer ebenso unbewußten Rückmeldung durch visuelle Wahrnehmung, einen visuellen Automatismus und zunehmend integriertere und flüssigere Reflexabläufe ersetzt. Fand bei ihr eine grundlegendere Entwicklung statt? Erhielt möglicherweise das visuelle Modell des Körpers, das Körperbild des Gehirns - das gewöhnlich recht schwach (und bei von Geburt an Blinden überhaupt nicht) ausgeprägt und normalerweise dem propriozeptiven Körperschema untergeordnet ist - jetzt, da dieses propriozeptive Körperschema verlorengegangen war, infolge von Kompensation und Substitution in zunehmendem, ungewöhnlichem Maße Gewicht? Und hier mochte noch eine kompensatorische Verstärkung des vestibulären Körperschemas oder Körperbildes hinzukommen... beides in einem Aus maß, mit dem wir nicht gerechnet, auf das wir nicht gehofft hatten. [9]
Während eine Verstärkung des Feedbacks der Gleichgewichtsorgane nicht eindeutig festgestellt werden konnte, ließ sich jedoch mit Sicherheit sagen, daß das Gehör für Christina immer wichtiger wurde. Normalerweise spielt das auditive Feedback eine untergeordnete, beim Sprechen recht unbedeutende Rolle - auch wenn unser Gehör sich, etwa infolge eines Schnupfens, verschlechtert, sprechen wir wie immer, und auch Menschen, die von Geburt an taub sind, können praktisch einwandfrei sprechen lernen. Die Modulation der Laute ist nämlich gewöhnlich durch die Eigenwahrnehmung bedingt und wird durch die Impulse gesteuert, die von allen lauterzeugenden Organen ausgehen. Diese Empfindung, und damit auch ihren normalen Ton und ihre Stimmlage, hatte Christina verloren. Daher war sie auf ihre Ohren, auf ihr Gehör-Feedback angewiesen.
Außer diesen neuen, kompensatorischen Arten von Feedback begann Christina - zunächst langsam und bewußt, dann aber immer unwillkürlicher - auch andere Arten neuer und kompensatorischer «Feedforwards» zu entwickeln. (Bei all ihren Bemühungen unterstützten sie verständnisvolle und kompetente Fachleute für Rehabilitation.)
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch ihrer Eigenwahrnehmung und noch etwa einen Monat später war Christina so schlaff und hilflos wie eine Puppe. Sie konnte sich nicht einmal selbst aufsetzen. Aber schon drei Monate später stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß sie sehr gut sitzen konnte - zu gut vielleicht, zu graziös, wie eine Tänzerin, die mitten in einer Bewegung innegehalten hat. Und bald merkte ich, daß dies tatsächlich eine Pose war, die sie, sei es bewußt oder automatisch, einnahm und aufrechterhielt, eine gezwungene oder schauspielerhafte Positur, die das Fehlen
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