Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
erhielten keine Informationen, die sie hätten verarbeiten können. Christina mochte an Hysterie leiden, aber sie litt außerdem noch an erheblich mehr, und zwar an etwas, das keiner von uns kannte oder sich auch nur vorgestellt hatte. Nun zogen wir eiligst einen Spezialisten hinzu, allerdings keinen Psychiater, sondern einen Neurophysiologen.
    Da der Fall dringend war, kam er schnell. Er machte große Augen, als er Christina sah, untersuchte sie rasch und gründlich und nahm anschließend einen Elektrotest der Nerven- und Muskelfunktionen vor. «Ein sehr außergewöhnlicher Fall», murmelte er. « So was habe ich noch nie gesehen - auch nichts darüber gelesen. Sie haben recht: Sie hat von Kopf bis Fuß jede Eigenwahrnehmung verloren. Sie spürt weder Muskeln noch Sehnen noch Gelenke. Außerdem sind noch andere Sinnesmodalitäten etwas in Mitleidenschaft gezogen - Berührungssinn, Temperatursinn, Schmerzempfinden -, und auch die Motorik ist leicht betroffen. Am schwersten aber ist die Wahrnehmung der Körperhaltung - die Eigenwahrnehmung - beeinträchtigt. »
    «Was ist die Ursache?» fragten wir.
    «Das müssen Sie selbst herausfinden. Sie sind schließlich die Neurologen. »
    Am Nachmittag hatte sich Christinas Verfassung weiter verschlechtert. Sie lag bewegungslos in ihrem Bett, hatte keinen Muskeltonus, und selbst ihre Atmung war flach. Ihr Zustand war so besorgniserregend, daß wir künstliche Beatmung in Erwägung zogen. Wir konnten uns noch immer nicht erklären, was eigentlich vorgefallen war.
    Eine Punktion des Rückenmarkkanals ergab eine akute Polyneuropathie sehr ungewöhnlicher Art: kein Guillain - Barre-Syndrom, das sich fast ausschließlich auf die Motorik auswirkt, sondern eine reine (oder fast reine) sensorische Neuritis, die die Wurzeln der Rückenmarks- und Hirnnerven auf der gesamten Nervenachse beeinträchtigte. [8]
    Der Eingriff wurde verschoben - es wäre Wahnsinn gewesen, jetzt zu operieren. Weit wichtiger war die Frage, ob sie überleben würde und was wir für sie tun konnten.
    «Wie lautet das Urteil?» fragte Christina mit schwacher Stimme und einem noch schwächeren Lächeln, nachdem wir ihre Rückenmarksflüssigkeit untersucht hatten.
    «Sie haben eine Entzündung, eine Neuritis ... » fingen wir an und sagten ihr alles, was wir wußten. Wenn wir etwas vergaßen oder uns vage ausdrückten, um sie zu schonen, stellte sie uns klare Fragen.
    «Werde ich wieder gesund werden?» wollte sie wissen. Wir wechselten rasche Blicke untereinander, dann sahen wir ihr in die Augen und sagten: «Wir wissen es nicht. »
    Die Empfindung des Körpers, erklärte ich ihr, basiere auf drei Dingen: der visuellen Wahrnehmung, den Gleichgewichtsorganen (dem Vestibularapparat) und der Eigenwahrnehmung, die sie verloren habe. Normalerweise arbeiteten diese drei zusammen. Wenn eines der Elemente ausfalle, könnten die anderen diesen Verlust - in gewissem Umfang - ausgleichen oder ersetzen. Ich schilderte ihr ausführlich den Fall meines Patienten MacGregor, der mit Hilfe seiner Augen die Beeinträchtigung seines Gleichgewichtssinns kompensierte (siehe Kapitel 7). Und ich erzählte ihr von Patienten, die an Neurosyphilis litten und ähnliche Symptome, wenn auch auf die Beine beschränkt, zeigten - daß auch sie diesen Verlust durch ihre Augen ausgleichen mußten (siehe «Phantombeine» in Kapitel 6) und daß ein solcher Patient, wenn man ihn bitte, seine Beine zu bewegen, gewöhnlich sage: «Gern, Doktor - sobald ich sie gefunden habe. »
    Christina hörte genau zu, mit einer Aufmerksamkeit, die nur die Verzweiflung hervorbringt.
     «Ich muß also», sagte sie langsam, «mein Sehvermögen, meine Augen in all den Situationen einsetzen, in denen ich mich bis jetzt auf meine - wie haben Sie das genannt? - Eigenwahrnehmung verlassen konnte. Ich habe schon bemerkt», fügte sie nachdenklich hinzu, «daß ich meine Arme verliere». Ich meine, sie seien hier, aber in Wirklichkeit sind sie dort. Diese (Eigenwahrnehmung ist also wie das Auge des Körpers - das, womit der Körper sich selbst wahrnimmt -, und wenn sie, wie bei mir, weg ist, dann ist es, als sei der Körper blind. Mein Körper kann sich selbst nicht (sehen›, weil er seine Au gen verloren hat, stimmt's? Also muß ich ihn jetzt sehen und diese Augen ersetzen. Hab ich das richtig verstanden?»
    «Ganz genau», antwortete ich. «Sie wären eine gute Physiologin. »
    «Das werde ich auch sein müssen», sagte sie, «denn mit meiner Physiologie ist schließlich

Weitere Kostenlose Bücher