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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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einem makabren Sinn für Humor in den Seziersaal geschlichen, ein Bein gestohlen und es ihm, während er fest schlief, ins Bett gelegt. Er war sehr erleichtert gewesen über diese Erklärung, aber da er gefunden hatte, daß dieser Witz zu weit ging, hatte er das verdammte Ding aus dem Bett geworfen. Doch - und in diesem Augenblick gab er den Plauderton, in dem er bisher erzählt hatte, auf, begann zu zittern und wurde aschfahl - als er es aus dem Bett geworfen hatte, war er irgendwie hinterher gefallen, und jetzt war das Bein an ihm festgewachsen.
    «Sehen Sie es sich an!» rief er mit vor Ekel verzerrtem Ge sicht. «Haben Sie jemals so ein widerwärtiges Ding gesehen? Ich dachte immer, ein Toter wäre tot, und damit basta. Aber das hier ist unheimlich! Und irgendwie - es ist gespenstisch - kriege ich es nicht ab! » Er packte das Bein mit beiden Händen, versuchte mit ungewöhnlicher Kraft, es sich abzureißen, und schlug, als ihm dies nicht gelang, wütend darauf ein.
    «Langsam! » sagte ich. «Immer mit der Ruhe! Beruhigen Sie sich! Ich würde das Bein nicht so schlagen. »
    «Und warum nicht?» fragte er herausfordernd.
    «Weil es Ihr Bein ist», antwortete ich. «Erkennen Sie Ihr eigenes Bein nicht?»
    Er sah mich ungläubig und entsetzt an, doch hinter dem Ausdruck der Verblüffung trat rasch eine Art schalkhaften Misstrauens hervor. «Ach so!» sagte er. «Sie wollen mich an der Nase herumführen! Sie stecken mit dieser Schwester unter einer Decke - aber Sie sollten Ihre Patienten nicht so auf den Arm nehmen! »
    «Ich nehme niemanden auf den Arm», erwiderte ich. «Das ist Ihr Bein. »
    Er sah meinem Gesicht an, daß ich es vollkommen ernst meinte. Blankes Entsetzen trat in seine Augen. «Das soll mein Bein sein? Meinen Sie nicht auch, daß man sein eigenes Bein kennen sollte?»
    «Selbstverständlich», antwortete ich. «Man sollte tatsächlich sein eigenes Bein kennen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man es nicht kennt. Vielleicht sind Sie derjenige, der uns hier die ganze Zeit auf den Arm nimmt. »
    «Nein, ich schwöre, bei allem, was mir heilig ist... Man sollte wirklich seinen eigenen Körper kennen und wissen, was zu einem gehört und was nicht - aber dieses Bein, dieses Ding-» wieder überlief ihn ein Schauder des Ekels - «fühlt sich nicht richtig, nicht wirklich an. Und es sieht auch nicht so aus, als ob es zu mir gehört. »
    «Wie sieht es denn aus?» fragte ich ihn. Ich war inzwischen genauso verwundert wie er.
    «Wie sieht es denn aus?» wiederholte er meine Frage langsam. «Ich werde es Ihnen sagen: Es sieht absolut grauenhaft aus, mit nichts zu vergleichen, was ich je gesehen habe. Wie kann so etwas zu mir gehören? Ich weiß nicht einmal, wohin so ein Ding gehören sollte... » Seine Stimme erstarb.
    «Hören Sie», sagte ich, «ich glaube, es geht Ihnen nicht gut. Das beste ist, Sie legen sich wieder ins Bett. Aber eine letzte Frage möchte ich Ihnen noch stellen: Wenn dies, dieses Ding, nicht Ihr linkes Bein ist» (er hatte es in seiner Erzählung als «Fälschung» bezeichnet und sich darüber gewundert, daß sich jemand solche Mühe gegeben habe, ein «Faksimile herzustellen»), « wo ist dann Ihr echtes linkes Bein?»
    Wieder wurde er blaß - so blaß, daß ich dachte, er würde in Ohnmacht fallen. «Ich weiß es nicht», sagte er. «Ich habe keine Ahnung. Es ist verschwunden. Es hat sich in Luft aufgelöst. Ich kann es nirgends finden... »
Nachschrift
    Nachdem diese Geschichte in meinem Buch «Der Tag, an dem mein Bein fortging» erschienen war, erhielt ich von dem Neurologen Michael Kremer einen Brief, in dem er schrieb:
    «Man bat mich, nach einem Patienten in der Kardiologie zu sehen, dessen Verhalten Rätsel aufgab. Er litt an Herzflimmern und hatte eine Embolie ausgebildet, durch die er linksseitig gelähmt war. Ich sollte ihn untersuchen, weil er nachts immer wieder aus dem Bett fiel. Die Herzspezialisten hatten keine Erklärung dafür.
    Als ich ihn fragte, was in der Nacht geschehe, erzählte er ohne Umschweife, daß er immer ein totes, kaltes, behaartes Bein in seinem Bett vorfinde, wenn er nachts erwache. Er könne sich das zwar nicht erklären, wolle es aber nicht dort haben und schiebe es daher mit seinem gesunden Arm und Bein aus dem Bett- worauf natürlich auch der Rest seines Körpers zu Boden fiel.
    Er war ein Paradebeispiel für den vollständigen Verlust des Bewußtseins für die gelähmte Körperhälfte. Interessanterweise konnte ich ihn jedoch nicht dazu

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