Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Ausgabe dieses Buches ist ein
sehr wichtiges Werk erschienen: ‹Principles of Behavioral Neurology› (Philadelphia 1985), herausgegeben von M. Marsel Mesulam. Ich zitiere Mesulams ausgezeichnete Beschreibung des Phänomens «Wahrnehmungsausfall»: «In schweren Fällen kann es vorkommen, daß der Patient sich verhält, als habe eine Hälfte der Welt von einem Moment auf den anderen keine Bedeutung mehr... Patienten mit einseitigen Wahrnehmungsstörungen verhalten sich so, als geschähe in der linken Hälfte der Welt nichts mehr, ja als könnte von dieser Hälfte überhaupt nichts Bedeutsames mehr ausgehen.»
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Die Ansprache des Präsidenten
Was war da los? Aus der Aphasie-Station drang, gerade als die Rede des Präsidenten übertragen wurde, lautes Gelächter, und dabei waren doch alle so gespannt darauf gewesen...
Da war er also, der alte Charmeur, der Schauspieler mit seiner routinierten Rhetorik, seiner Effekthascherei, seinen Appellen an die Emotionen - und alle Patienten wurden von Lachkrämpfen geschüttelt. Nein, nicht alle: Einige sahen verwirrt aus, andere wirkten erregt, zwei oder drei machten einen besorgten Eindruck, aber die meisten amüsierten sich groß artig. Die Worte des Präsidenten waren eindringlich wie immer, aber bei den Patienten riefen sie offenbar hauptsächlich Heiterkeit hervor. Was mochte in ihnen vorgehen? Verstanden sie ihn nicht? Oder verstanden sie ihn vielleicht nur zu gut?
Es hieß oft, diese Patienten, die zwar intelligent waren, aber an schwerer sensorischer oder totaler Aphasie litten und daher nicht imstande waren, die Bedeutung von Worten als solchen zu begreifen, verstünden dennoch das meiste von dem, was man zu ihnen sagte. Ihre Freunde, ihre Verwandten, die Schwestern, die sie gut kannten, konnten manchmal kaum glauben, daß sie tatsächlich eine sensorische Sprachstörung hatten.
Wie es dazu kam, war uns klar: Wenn man natürlich mit ihnen sprach, erfaßten sie die Bedeutung des Ganzen mehr oder weniger vollständig. Und natürlich spricht man immer «natürlich».
Um ihre Aphasie zu erkennen, mußte man als Neurologe
große Anstrengungen unternehmen, sich unnatürlich zu benehmen und auszudrücken und keine nonverbalen Hinweise auf das Gesagte zu geben, das heißt, man mußte mit neutralem Tonfall und ohne suggestive Betonung oder Modulation mit ihnen sprechen und alle visuellen Anhaltspunkte (Mimik, Gestik, das ganze, weitgehend unbewußte, persönliche Repertoire der die Sprache begleitenden Haltung) unterdrücken. All dies hatte zu unterbleiben (was manchmal erforderte, daß man selbst unsichtbar blieb und seiner Stimme, gegebenenfalls durch einen Synthesizer, einen ganz und gar unpersönlichen Klang gab), um Sprache auf reine Worte zu reduzieren, so daß ihr emotiver, evokativer Ausdruck, das, was Frege «Klangfarben» nannte, völlig getilgt wurde. Bei den sensibelsten Patienten war nur durch die Verwendung einer derart künstlichen, mechanischen Sprache - die Ähnlichkeit mit der von Computern in Sciencefiction-Filmen hat - zweifelsfrei nachzuweisen, daß sie an Aphasie litten.
Wie kam das? Sprache - natürliche Sprache - besteht weder nur aus Worten noch (wie Hughlings Jackson glaubte) lediglich aus «Propositionen». Sie besteht aus Äußerungen, aus Sprechakten - man drückt die Bedeutung dessen, was man sagen will, mit dem ganzen Körper aus -, und das Verständnis dieser Äußerungen erfordert weit mehr als die bloße Identifizierung von Worten. Menschen, die an Aphasie leiden, greifen diese Hinweise auf und verstehen das Gesagte, auch wenn die Worte für sie unverständlich bleiben. Denn obwohl die Worte, die verbalen Konstruktionen an sich keinen Sinn ergeben, fließt die Sprache normalerweise in einer «Melodie» dahin und wird von einer Ausdruckskraft getragen, die die rein verbale Ebene übersteigt. Und eben diese vielfältige, komplexe und subtile Ausdruckskraft bleibt bei Aphasie-Patienten erhalten, auch wenn das Wortverständnis ausgeschaltet ist. Sie bleibt erhalten - und oft mehr als das: Sie wird geradezu übernatürlich verstärkt...
Auch dies wird allen, die mit Aphasie-Patienten zusammenleben oder mit ihnen arbeiten - ihrer Familie, ihren Freunden, Krankenschwestern oder Ärzten -, häufig auf verblüffende, komische oder drastische Weise klar. Zunächst fällt uns vielleicht gar nichts Besonderes auf, aber dann erkennen wir, daß eine große Veränderung, fast eine Umkehrung in ihrem Sprachverständnis stattgefunden hat. Es stimmt
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