Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
»
Wieder versank er, die Stirn in Falten legend, in tiefes, konzentriertes Nachdenken. Dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf, und er lächelte. «Ich hab's!» rief er. «Ja, ich hab's! Ich brauche keinen Spiegel - ich brauche nur eine Wasserwaage. Wenn ich die in meinem Kopf nicht gebrauchen kann, dann könnte mir doch eine helfen, die außerhalb von meinem Kopf ist. Es müßte irgend etwas sein, das ich sehen kann, das ich vor Augen habe. » Er nahm seine Brille ab und betrachtete sie gedankenvoll von allen Seiten. Sein Lächeln wurde langsam breiter.
«Hier zum Beispiel, der Rand meiner Brille... daran könnte ich merken, könnte ich sehen, daß ich mich schief halte. Zu Anfang müßte ich den Rand immer im Auge behalten. Das ist natürlich eine ziemliche Anstrengung, aber nach und nach geht es vielleicht ganz automatisch. Was halten Sie von dieser Idee, Herr Doktor?»
«Ich finde sie großartig, Mr. MacGregor. Versuchen wir es doch einfach! »
Das Prinzip war klar, aber die mechanische Umsetzung er wies sich als recht schwierig. Zunächst experimentierten wir mit einer Art Pendel, einem am Brillengestell befestigten Fa den mit einem Gewicht, aber er hing zu dicht vor den Augen und war kaum wahrzunehmen. Dann brachten wir in der zur Klinik gehörigen Werkstatt mit Hilfe unseres Optikers einen Bügel an der Brücke der Brille an, der an seinem Ende, etwa zwei Nasenlängen vor den Gläsern, mit einer Art künstlichem Horizont versehen war. Wir probierten verschiedene Modelle aus, die MacGregor allesamt testete und abänderte. Nach einigen Wochen hatten wir einen Prototyp kreiert. «Die erste Brille dieser Art auf der Welt! » sagte MacGregor mit freudiger, triumphierender Stimme. Er setzte sie auf. Sie sah kaum seltsamer und klobiger aus als die plumpen Hörgerät-Brillen, die damals gerade aufkamen. In den Tagen, die nun folgten, mußte man in unserem Altersheim auf den sonderbaren Anblick von Mr. MacGregor mit seiner von ihm selbst erfundenen und verfertigten Brille auf der Nase gefaßt sein. Wie ein Steuermann, der den Kompaß seines Schiffes nicht aus den Augen läßt, ging er mit starrem Blick umher. Das funktionierte ganz passabel - jedenfalls hörte er auf, sich nach einer Seite zu neigen -, aber es erforderte eine ständige, ermüdende Anstrengung. Doch im Laufe der Wochen fiel ihm dies immer leichter; er nahm sein «Instrument» immer unbewußter wahr - so wie man das Armaturenbrett seines Autos im Auge behält und dabei nachdenken, sich unterhalten oder andere Dinge tun kann.
MacGregors Brille entwickelte sich zum Schlager von St. Dunstan's. Wir hatten mehrere andere Patienten, die an der Parkinsonschen Krankheit litten und deren Haltungsreflexe
und Reaktionen auf Schräglagen ebenfalls beeinträchtigt waren. Diese Behinderung kann nicht nur gefährliche Folgen ha ben, sondern entzieht sich auch, wie in Fachkreisen allgemein bekannt ist, jeder Behandlung. Bald trug ein zweiter, dann ein dritter Patient eine Brille wie MacGregor und war dadurch, wie ihr Erfinder, imstande, aufrecht und ohne Schräglage zu gehen.
8
Augen rechts!
Mrs. S., eine intelligente Frau in den Sechzigern, hat einen schweren Schlaganfall hinter sich, der die tiefer gelegenen und hinteren Teile ihrer rechten Gehirnhälfte gelähmt hat. Ihre Intelligenz- und ihr Sinn für Humorsind jedoch unbeeinträchtigt geblieben. Manchmal beschwert sie sich bei den Schwestern, sie hätten ihr keinen Kaffee oder Nachtisch auf ihr Tablett gestellt. Wenn sie dann antworten: «Aber Mrs. S., da steht es doch - links von Ihrem Teller», scheint sie nicht zu verstehen, was sie sagen, und sieht nicht nach links. Wenn man ihren Kopf sanft nach links dreht, so daß das Dessert in der intakten rechten Hälfte ihres Gesichtsfeldes erscheint, sagt sie: «Ach, da ist es ja -aber eben war es noch nicht da. » Sie hat den Begriff «links», bezogen sowohl auf die Außenwelt als auch auf ihren eigenen Körper, vollständig verloren. Manchmal beklagt sie sich, ihre Portionen seien zu klein, aber das kommt daher, daß sie nur von der rechten Hälfte des Tellers ißt. Es kommt ihr nicht in den Sinn, daß er auch eine linke Hälfte hat. Manchmal trägt sie Lippenstift und Makeup auf - aber nur auf die rechte Seite ihres Gesichtes. Die linke läßt sie völlig unbeachtet. Eine Behandlung dieses Fehlverhaltens ist fast unmöglich, denn man kann ihre Aufmerksamkeit nicht darauf lenken («halbseitiger Gesichtsfeldausfall», vgl. «hemiinattention», Battersby
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