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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Erscheinen von Tourettes Publikation wurden Hunderte solcher Fälle beschrieben - und nicht einer glich dem anderen vollkommen. Es wurde deutlich, daß dieses Syndrom in schwach ausgeprägter, abgemilderter Form auftreten, sich aber auch in erschreckend grotesker und heftiger Weise äußern kann. Auch stellte sich heraus, daß es manchen Menschen gelingt, mit dem Touretteschen Syndrom «fertig zu werden», es in eine breit gefächerte Persönlichkeit zu integrieren und darüber hinaus sogar aus dem rasenden Tempo der Gedanken, Assoziationen und Einfälle, die dieses Syndrom mit sich bringt, einen Nutzen zu ziehen. Andere da gegen sind tatsächlich «besessen» und angesichts des verwirrenden Chaos und des gewaltigen Drucks der Impulse kaum imstande, ihre wahre Identität zu finden. Wie Lurija im Zusammenhang mit dem von ihm beschriebenen Fall eines Mnemonikers bemerkt, tobt immer ein Kampf zwischen einem «Es» und einem «Ich».
    Charcot und seine Schüler, zu denen neben Tourette auch Freud und Babinski gehörten, waren mit die letzten Neurologen, für die eine Verbindung zwischen Körper und Seele, zwischen «Es» und «Ich», zwischen Neurologie und Psychiatrie bestand. Um die Jahrhundertwende zeichnete sich bereits deutlich eine Spaltung in eine seelenlose Neurologie und eine körperlose Psychologie ab, und damit war einem Verständnis für das Tourettesche Syndrom jede Basis entzogen. Das ging so weit, daß das Tourettesche Syndrom verschwunden zu sein schien - es tauchte in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts kaum in der Fachliteratur auf. Manche Ärzte hielten es gar für einen «Mythos», ein Produkt von Tourettes blühender Phantasie; die meisten aber hatten noch nie davon gehört. Es geriet ebenso in Vergessenheit wie die große Schlafkrankheit-Epidemie der zwanziger Jahre.
    Schlafkrankheit (Encephhalitis lethargica) und Tourettesches Syndrom haben viele Gemeinsamkeiten, die dazu beitrugen, daß sie in Vergessenheit gerieten. Beide Krankheiten waren außerordentlich und jedenfalls nach Auffassung einer Medizin mit eingeengtem Blickfeld - geradezu unglaublich seltsam. Sie ließen sich nicht in das konventionelle System dieser Wissenschaft einordnen; deshalb wurden sie vergessen und «verschwanden» auf geheimnisvolle Weise. Aber eine weit engere Verbindung besteht zwischen den beiden (wie es sich in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts abzeichnete) in den absurden hyperkinetischen Formen, die die Schlafkrankheit manchmal annahm: Die Betroffenen neigten anfangs zu gesteigerter körperlicher und geistiger Erregung, zu heftigen Bewegungen, Tics und zwanghaften Handlungen aller Art. Wenig später ereilte sie das gegenteilige Schicksal: Sie versanken in einem allumfassenden, tranceartigen «Schlaf». Auch als ich sie vierzig Jahre später zum erstenmal sah, befanden sie sich noch in diesem Zustand.
    1969 gab ich diesen schlafkranken oder postenzephalitischen Patienten L-Dopa, einen Vorläufer des Neurotransmitters Dopamin, das in ihrem Gehirn kaum vorhanden war. Sie waren nicht wiederzuerkennen. Zunächst «erwachten» sie aus ihrem Stupor und schienen gesund, dann verfielen sie in das andere Extrem, in Tics und Raserei. Dies war meine erste Erfahrung mit Touretteartigen Symptomkomplexen: wilde Erregungszustände und heftige Impulse, die oft mit verdrehten, ausgelassenen Späßen einhergingen. Ich begann, die Bezeichnung «Tourettismus» zu gebrauchen, obwohl ich bis dahin noch nie einen Patienten gesehen hatte, der am Touretteschen Syndrom litt.
    Anfang 1971 fragte mich die Washington Post, die sich für das «Erwachen» meiner postenzephalitischen Patienten interessiert hatte, wie es ihnen mittlerweile gehe. «Sie ticken», antwortete ich, was die Zeitung veranlaßte, einen Artikel über «Tics» zu bringen. Darauf erhielt ich zahllose Briefe, die ich zumeist an Kollegen weiterleitete. Einen Patienten jedoch wollte ich übernehmen: Ray.
    Einen Tag, nachdem ich Ray untersucht hatte, meinte ich mitten in New York auf der Straße drei Menschen mit dem Touretteschen Syndrom zu sehen. Ich war verblüfft, denn dieses Syndrom galt als außerordentlich selten. Es trat, so hatte ich gelesen, mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million auf, und doch waren mir anscheinend innerhalb einer Stunde drei Fälle begegnet. Ich wunderte mich sehr: War es
    möglich, daß ich sie die ganze Zeit übersehen hatte entweder weil ich diese Patienten einfach nicht wahrgenommen oder weil ich sie vage als «nervös»,

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