Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
ungezügelten Improvisation aus, so daß der «Fehler» sich in ein herausragendes Stilmittel verwandelte. Das Tourettesche Syndrom gereichte ihm auch bei verschiedenen Spielen zum Vorteil, vor allem beim Tischtennis, das er souverän beherrschte, zum Teil wegen der abnormen Schnelligkeit seiner Reaktionen und Reflexe, hauptsächlich aber wieder wegen seiner «Improvisationen», seiner (um seine eigenen Worte zu gebrauchen) «ganz plötzlichen, vibrierenden, gewagten Schläge», die so unerwartet und überraschend kamen, daß die Bälle für den Gegner praktisch unerreichbar waren. Frei von Tics war Ray nur nach dem Geschlechtsverkehr, im Schlaf, wenn er schwamm, sang oder gleichmäßig und rhythmisch arbeitete, kurz: wenn er eine «kinetische Melodie» fand, ein Spiel, das ohne Spannungen, ohne Tics und ohne Zwänge ablief.
Unter der überschäumenden, aufwallenden, clownesken Oberfläche war er ein sehr ernsthafter, ja verzweifelter Mann. Er hatte noch nie von der TSA (die damals gerade erst ins Leben gerufen worden war) oder von Haldol gehört. Daß er am Touretteschen Syndrom litt, vermutete er, seitdem er den Artikel über «Tics» in der Washington Post gelesen hatte. Als ich die Diagnose bestätigte und ihm eine medikamentöse Behandlung mit Haldol vorschlug, war er neugierig, aber vorsichtig. Probeweise injizierte ich ihm eine Dosis. Die Wirkung war außerordentlich stark: Obwohl ich ihm nicht mehr als ein achtel Milligramm verabreicht hatte, waren seine Tics zwei Stunden lang praktisch verschwunden. Das war ein verheißungsvoller Anfang, und ich verschrieb ihm eine Dosis von dreimal täglich einem viertel Milligramm.
Eine Woche später erschien er mit einem blauen Auge und einer gebrochenen Nase und sagte: «Das hab ich jetzt von Ihrem Scheiß-Haldol! » Selbst diese winzige Dosis, sagte er, habe ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und sein Reaktionsvermögen, sein Zeitgefühl und seine übernatürlich schnellen Reflexe beeinträchtigt. Wie viele Tourette-Patienten war er fasziniert von allem, was rotiert, insbesondere von Drehtüren, durch die er blitzschnell flitzte. Der Trick, mit dem er dieses flinke Rein- und Rausspringen zuwege gebracht hatte, war ihm durch das Haldol abhanden gekommen - er hatte seine Bewegungen falsch berechnet und sich heftig die Nase gestoßen. Außerdem waren viele seiner Tics nicht verschwunden, sondern hatten sich lediglich verlangsamt und zeitlich stark ausgedehnt: Zuweilen konnte es passieren, daß er, wie er sich ausdrückte, «mitten in einem Tic erstarrte» und sich in fast katatonischen Haltungen wiederfand (Ferenczi hat die Katatonie einmal als das Gegenteil von Tics definiert und vorgeschlagen, sie als «Kataklonie» zu bezeichnen). Selbst diese winzige Dosis führte bei ihm also zu ausgeprägtem Parkinsonismus, Dystonie, Katatonie und einer psychomotorischen «Blockade». Diese höchst unerfreuliche Reaktion ließ nicht etwa auf Unempfänglichkeit schließen, sondern auf eine so gesteigerte und pathologische Empfänglichkeit, daß er vielleicht nur von einem Extrem ins andere fallen konnte - von beschleunigten Reaktionen und Tourettismus in Katatonie und Parkinsonismus -, ohne daß für ihn die Möglichkeit bestand, einen goldenen Mittelweg zu finden.
Verständlicherweise entmutigte ihn diese Erfahrung - und je mehr er darüber grübelte, desto niedergeschlagener wurde er. Und noch ein weiterer Gedanke bedrückte ihn: «Mal angenommen, man könnte diese Tics tatsächlich beseitigen», sagte er. «Was bliebe dann? Ich bestehe ausschließlich aus Tics - es wäre nichts von mir übrig. » Er schien, zumindest im Scherz, nur insofern über ein Bewußtsein seiner eigenen Identität zu verfügen, als er sich als einen mit Tics behafteten Menschen sah: Er nannte sich den «Ticker von President's Broadway»,sprach von sich in der dritten Person als «Witty Ticcy Ray» und fügte hinzu, er habe eine so starke Veranlagung zu «tickigen Witzeleien und witzigen Tics», daß er kaum wisse, ob dies eine Gnade oder ein Fluch sei. Er sagte, er könne sich ein Leben ohne das Tourettesche Syndrom nicht vorstellen und er habe auch Zweifel, ob ein solches Leben für ihn überhaupt erstrebenswert sei.
An diesem Punkt fühlte ich mich sehr an einige meiner postenzephalitischen Patienten erinnert, die auf L-Dopa außerordentlich sensibel reagiert hatten. In ihrem Fall hatte ich jedoch festgestellt, daß eine solche extreme physiologische Sensibilität und Instabilität überwunden werden
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