Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Fall. So sagte Rose R. in der ersten Freude über ihre wiederhergestellte Gesundheit: «Es ist unglaublich, herrlich!» Als die Entwicklung jedoch immer unkontrollierbarer wurde, meinte sie: « So kann es nicht weitergehen. Etwas Furchtbares braut sich zusammen.» Und bei den meisten anderen Patienten, ob sie nun einsichtiger waren oder nicht, lief es ähnlich ab, so zum Beispiel bei Leonard L. , als er an der Schwelle zwischen Fülle und Überschuß stand: «Das überschäumende Gefühl von Gesundheit und Energie, von ‹Gnade›, wie Mr. L. sich ausdrückte, wurde zu übermäßig und begann, eine übertriebene, manische und großsüchtige Form anzunehmen... Sein Gefühl der Harmonie, Leichtigkeit und müheloser Beherrschung wurde durch ein Gefühl des Zu-Viel, der Kraft, des Drucks ... ersetzt», das ihn in seine Bestandteile aufzulösen und zu zerschmettern drohte.
Dies ist die Gnade und der Fluch, die Freude und die Qual eines Überschusses, und Patienten, die das Wesen ihrer Krankheit erkannt haben, empfinden dies als fragwürdig und paradox. «Ich habe zuviel Energie», sagte ein Patient, der an der Tourette-Krankheit litt. «Alles ist zu hell, zu stark, zu viel. Alles hat eine fiebrige Energie, einen morbiden Glanz. »
«Gefährlich gut», «morbider Glanz», eine irreführende Euphorie, unter der ein Abgrund gähnt, dies ist die Verheißung und die Drohung des Überschusses, ob er nun durch eine na turgegebene berauschende Geistesstörung oder in Gestalt einer von uns selbst hervorgerufenen Sucht nach bestimmten Reizen auftritt.
In solchen Situationen steht man vor einem außergewöhnlichen menschlichen Dilemma, denn die Patienten haben es hier mit Krankheiten zu tun, die in Gestalt von Verführern auftreten, also mit etwas ganz anderem und weit Unbestimmbarerem als der gewohnten, mit Schmerz und Leiden assoziierten Vorstellung von Krankheit. Und niemand, absolut niemand, ist gegen diese bizarren Täuschungen, diese Demütigungen gefeit. Bei Störungen, die durch Überschüsse entstehen, kann es zu einer Art Kollusion kommen: Das Selbst gehorcht mehr und mehr seiner Krankheit, es identifiziert sich in zunehmendem Maße mit ihr, so daß es schließlich jede eigenständige Existenz zu verlieren und nichts weiter zu sein scheint als ein Produkt der Krankheit. Diese Angst faßt Witty Ticcy Ray (Kapitel 10) in Worte, wenn er sagt: «Ich bestehe ausschließlich aus Tics» oder wenn er sich eine Zunahme der geistigen Aktivität - ein «Tourettoma»vorstellt, das ihn in den Abgrund reißen könnte. Ihm mit seinem starken Ich und seinem relativ schwach ausgeprägten Touretteschen Syndrom hat jedoch diese Gefahr nie wirklich gedroht. Aber bei Patienten mit schwachem oder unterentwickeltem Ich besteht, in Verbindung mit einer übermächtigen Krankheit, das sehr reale Risiko einer solchen «Besessenheit» oder «Enteignung». Im Kapitel «Die Besessenen» werde ich diesen Aspekt wenigstens streifen.
10
Witty Ticcy Ray
1885 beschrieb Gilles de la Tourette, ein Schüler von Charcot, das erstaunliche Syndrom, das heute seinen Namen trägt. Das «Tourettesche Syndrom», wie es genannt wird, ist gekennzeichnet durch einen Überschuß an nervlicher Energie und durch eine übersteigerte Neigung zu seltsamen Bewegungen und Impulsen: zu Tics, Zuckungen, gekünstelten Verhaltensweisen, Grimassen, Geräuschen, Flüchen, unwillkürlichen Imitationen und zwanghaften Handlungen aller Art, gepaart mit einem sonderbar schalkhaften Humor und einer Neigung zu übermütigen, neckischen Spielereien. In seiner ausgeprägtesten Form erfaßt das Tourettesche Syndrom alle Aspekte des affektiven, instinktiven und imaginativen Lebens; in seinen weniger ausgeprägten und wohl verbreiteteren Formen mag es zu wenig mehr als zu abnormen Bewegungen und Impulshandlungen kommen, obwohl auch diese etwas Befremdliches haben. Dieses Syndrom wurde in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts klar erkannt und umfassend beschrieben, denn in jener Zeit waren die Grenzen der Neurologie weit gesteckt, und man hegte keine Bedenken, das Organische mit dem Psychischen zu verknüpfen. Für Tourette und seine Kollegen lag es auf der Hand, daß dieses Syndrom eine Art von Besessenheit darstellte, bei der der Betroffene von primitiven Impulsen und Trieben beherrscht wurde, eine Besessenheit, die jedoch eine organische Grundlage hatte und durch eine ganz bestimmte (wenn auch noch unentdeckte) neurologische Störung hervorgerufen wurde.
In den Jahren nach dem
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