Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
angeboren, ständig aktiv, fruchtbar, aber eben auch potentiellen Mißbildungen unterworfen ist. So müssen wir von einer Neurologie der Funktion weiterschreiten zu einer Neurologie der Aktion, des Lebens. Zu diesem entscheidenden Schritt zwingen uns die Krankheiten, die durch einen Überschuß entstehen - und ohne ihn können wir das «Leben des Geistes» nicht einmal ansatzweise erforschen. Die traditionelle Neurologie mit ihrem mechanistischen Konzept und ihrem Schwerpunkt auf den Ausfällen verstellt uns den Blick auf das Leben, das allen Hirnfunktionen in Wahrheit innewohnt - jedenfalls den höheren Funktionen, wie zum Beispiel dem Vorstellungsvermögen, dem Gedächtnis und der Wahrnehmung. Die traditionelle Neurologie verbirgt das eigentliche Leben des Geistes vor uns. Mit diesen lebendigen (und oft höchst individuellen) Veranlagungen des Gehirns und des Geistes - insbesondere in einem Zustand gesteigerter und daher aufschlußreicher Aktivität - werden wir uns nun befassen. Gesteigerte Aktivität läßt nicht nur eine gesunde Fülle und Üppigkeit entstehen, sondern kann auch zu einer recht bedenklichen Zügellosigkeit führen, zu einer Abweichung und Mißbildung - zu jener Art von « Zuvielheit » also, deren beunruhigende Präsenz bei den Fällen, die ich in ‹Bewußtseinsdämmerungen› beschrieben habe, immer dann zu spüren war, wenn übererregte Patienten drohten, ihr inneres Gleichgewicht und ihre Selbstbeherrschung zu verlieren - eine Überwältigung durch Impuls, Vorstellung und Willen, eine Besessenheit (oder «Enteignung») durch eine außer Kontrolle geratene Physiologie.
Diese Gefahr ist mit Wachstum und Leben untrennbar verbunden. Aus Wachstum kann Wucherung, aus Leben kann «Hyper-Leben» werden. Alle «Hyper»-Zustände können sich in monströse, perverse, anomale «Para»-Zustände verwandeln: Hyperkinese entwickelt sich zu Parakinese (abnorme Be wegungen, Chorea, Tics); Hypergnosie wird leicht zu Paragnosie (Verirrungen und Erscheinungen, die aufgrund der krankhaft erhöhten Sinnestätigkeit auftreten); aus der Begeisterung der «Hyper»-Zustände kann gewalttätige Leidenschaft werden.
Das Paradoxon einer Krankheit, die in der Maske des Wohlbefindens auftritt, einem also das wunderbare Gefühl gibt, gesund und munter zu sein, und ihr wahres Gesicht erst später zeigt, ist eine der Chimären, Tricks und Ironien der Natur. Eine ganze Reihe von Künstlern, vor allem jene, die Kunst mit Krankheit gleichsetzen, waren davon fasziniert. Dieses
Thema, das gleichzeitig dionysisch, venerisch und faustisch ist, taucht daher immer wieder in den Werken von Thomas Mann auf- von den fiebrigen, tuberkulösen Wahnvorstellungen im Zauberberg› über die syphilitischen Inspirationen in Doktor Faustus› bis zu der aphrodisischen Verderblichkeit in seiner letzten Geschichte Die Betrogene›.
Ich war immer schon gefesselt von solchen Paradoxa und habe bereits früher über sie geschrieben. In Migräne› habe ich das Hochgefühl geschildert, das den Beginn eines Anfalls markiert oder ihm unmittelbar vorausgeht, und dabei George Eliots Bemerkung zitiert, ein «gefährlich gutes» Gefühl sei für sie der Vorbote, das erste Anzeichen eines Anfalls. «Gefährlich gut» - was für eine Ironie schwingt in dieser Bezeichnung mit! Sie betont die Doppeldeutigkeit, das Paradoxon, das zum Ausdruck kommt, wenn wir sagen, es gehe uns «zu gut».
Denn Wohlbefinden ist natürlich kein Grund zur Klage - man genießt es, man erfreut sich seiner, man ist von Beschwerden so weit entfernt, wie es nur möglich ist. Man beklagt sich, wenn man sich krank fühlt, nicht aber, wenn man sich wohl fühlt - außer wenn man, wie George Eliot, die Anzeichen des «Übels» oder der Gefahr erkennt, sei es durch Wissen oder Erinnerung, sei es durch die Erkenntnis, daß ein Überschuß an Überschuß vorliegt. Obwohl ein Patient sich selten darüber beklagen wird, daß es ihm «sehr gut» geht, kann es daher sein, daß er mißtrauisch wird, wenn es ihm «zu gut» geht.
Dies war das zentrale und (gewissermaßen) grausame Thema von ‹Bewußtseinsdämmerungen›: daß schwerkranke Patienten, die seit Jahrzehnten an heftigen Ausfällen litten, sich wie durch ein Wunder plötzlich gesund fühlten, um dann in die Gefahren und Leiden von Überschüssen gestürzt zu werden, wenn Funktionen über «akzeptable» Grenzen hinaus stimuliert waren. Manche Patienten waren sich dessen bewußt und hatten Vorahnungen - bei anderen war dies nicht der
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