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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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«gestört» oder «verdreht» abgetan hatte? Hatten alle anderen sie vielleicht ebenfalls übersehen? War das Tourettesche Syndrom gar nicht so selten, sondern im Gegenteil recht verbreitet - vielleicht tausendmal häufiger, als bis dahin angenommen? Am nächsten Tag sah ich zwei weitere Fälle auf der Straße, ohne bewußt danach Ausschau zu halten. Ich hatte einen seltsamen Einfall: Angenommen, das Tourettesche Syndrom bleibt, obwohl weit verbreitet, unerkannt, ist aber, wenn es einmal erkannt ist, leicht und überall zu beobachten. [12] Angenommen, ein solcher TourettePatient erkennt einen anderen, und diese beiden einen dritten und diese drei einen vierten, bis sich, durch fortlaufendes gegenseitiges Erkennen, eine Gruppe gebildet hat: Brüder und Schwestern in der Pathologie, eine neue Spezies in unserer Mitte, geeint durch die gemeinsame Erkenntnis der Krankheit und die Sorge umeinander. War es nicht möglich, daß aus einem derartigen spontanen Zusammenschluß eine regelrechte Vereinigung von New Yorkern entstand, die am Touretteschen Syndrom litten?
    1974, drei Jahre später, stellte ich fest, daß meine Phantasie Wirklichkeit geworden war: Eine solche Vereinigung, die Tourette's Syndrome Association (TSA), war tatsächlich gegründet worden. Damals hatte sie fünfzig Mitglieder, heute sind es einige Tausend. Dieser erstaunliche Zuwachs ist allein das Verdienst der TSA, auch wenn sie nur aus Patienten, ihren Verwandten und Ärzten besteht. Die Organisation hat unermüdlich nach Wegen gesucht, auf die Misere der Tourette
    Patienten hinzuweisen und sie, im besten Sinn des Wortes, «in der Öffentlichkeit bekannt zu machen». Die Reaktion darauf war nicht - wie früher so oft gegenüber Tourette-Patienten - Ablehnung und Ignoranz, sondern echtes Interesse, und der Komplex wurde von allen Seiten erforscht, von den physiologischen bis zu den soziologischen Aspekten: Man untersuchte biochemische Abläufe im Gehirn eines Tourette-Kranken, genetische und andere Faktoren, die zur Entstehung des Touretteschen Syndroms beitragen können, und die abnorm schnellen und wahllosen Assoziationen und Reaktionen, die ein charakteristisches Merkmal der Krankheit sind. Man hat Instinkt- und Verhaltensmuster entdeckt, die lebensgeschichtlich und selbst phylogenetisch primitiver Natur sind. Ein Teil der Forschung hat sich mit der Körpersprache, der Grammatik und der linguistischen Struktur von Tics befaßt; man hat unerwartete Erkenntnisse über das Wesen des Fluchens und Witzemachens gewonnen (das auch für einige andere neurologische Störungen charakteristisch ist); und nicht zuletzt hat man die wechselseitige Beeinflussung von Tourette-Kranken, ihren Familien und anderen Menschen in ihrer Umgebung untersucht, sowie die seltsamen Mißgeschicke, die solche Beziehungen mit sich bringen. Die erfolgreichen Bemühungen der TSA bilden einen wesentlichen Bestandteil der Geschichte dieser Krankheit und sind als solche beispiellos: Noch nie zuvor haben Patienten den Weg zum Erkennen ihres Leidens gewiesen, und noch nie haben sie so aktiv zum Verständnis und zur Heilung ihrer Krankheit beigetragen.
    In den vergangenen zehn Jahren ist - zum großen Teil durch die Initiative der TSA - Gilles de la Tourettes Annahme, dieses Syndrom habe eine organische neurologische Grundlage, eindeutig bewiesen worden. Das «Es» des Touretteschen Syndroms wird, wie das «Es» der Parkinsonschen Krankheit und der Chorea, durch etwas hervorgerufen, das Pawlow «die blinde Gewalt des Subkortex» nannte: eine Störung jener primitiven Teile des Gehirns, die «Bewegung» und «Antrieb» steuern. Bei der Parkinsonschen Krankheit, die zwar die Bewegungen, nicht aber das Handeln als solches beeinträchtigt, liegt die Störung im Mittelhirn und in seinen Verbindungen.
    Bei der Chorea, die sich in wahllosen und fragmentarischen Quasi-Aktionen äußert, ist die Störung in den höheren Partien der Basalganglien lokalisiert. Beim Touretteschen Syndrom, das durch eine Erregung der Emotionen und Leidenschaften sowie durch eine Turbulenz der ursprünglichsten, instinktgesteuerten Grundlagen des Verhaltens charakterisiert ist, scheint die Ursache der Störung in den obersten Teilen des «alten Hirns» zu liegen: im Thalamus, im Hypothalamus, im limbischen System und im Mandelkern, also im Sitz der grundlegenden affektiven und instinktiven Determinanten der Persönlichkeit. So ist das Tourettesche Syndrom - sowohl in pathologischer als auch in klinischer Hinsicht - eine

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