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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Aufmerksamkeit untersucht wurden, die sie verdienen. In der Psychiatrie ist das geschehen; man spricht dort von produktiven Störungen und Erregungszuständen - von übersteigerter Phantasie oder Impulsivität, von Manien. Und auch in der Anatomie und Pathologie hat man sich damit befaßt; dort ist die Rede von Hypertrophien und Mißbildungen, von Teratomen. In der Physiologie jedoch gibt es hierfür keine Entsprechung, kein Pendant zu Mißbildungen oder Manien. Und dies
    allein schon deutet darauf hin, daß unser grundlegendes Konzept, unsere Gewohnheit, das Nervensystem als eine Art Maschine oder Computer zu betrachten, äußerst unzulänglich ist und durch dynamischere, lebendigere Konzepte ergänzt wer den muß.
    Diese tiefgreifende Unzulänglichkeit mag nicht ins Auge fallen, solange wir es nur mit Ausfällen zu tun haben - der Aufhebung von Funktionen, wie ich sie im ersten Teil geschildert habe. Aber sie wird sofort sichtbar, wenn wir uns den Übersteigerungen von Funktionen zuwenden: nicht der Am nesie, sondern der Hypermnesie, nicht der Agnosie, sondern der Hypergnosie und allen anderen «Hyper»-Funktionen, die wir uns vorstellen können.
    Die klassische, «Jacksonsche» Neurologie beschäftigt sich nie mit solchen Störungen durch Übersteigerung, das heißt mit primären Überschüssen oder Auswüchsen oder Verästelungen von Funktionen (im Gegensatz zu den sogenannten «Freisetzungen»). Es stimmt zwar, daß Hughlings Jackson selbst von «hyperphysiologischen» und «überpositiven Geisteszuständen» sprach. Aber in diesem Fall, so könnte man sagen, läßt er lediglich spielerisch die Zügel schießen oder sich einfach von seiner klinischen Erfahrung leiten, befindet sich jedoch im Widerspruch zu seinen eigenen mechanistischen Konzepten von Funktion. (Solche Widersprüche waren charakteristisch für seinen genialen Geist; zwischen seinem Naturalismus und seinem starren Formalismus gähnte ein tiefer Abgrund.)
    Wir müssen fast bis in die Gegenwart gehen, um einen Neurologen zu finden, der Übersteigerungen überhaupt in Betracht zieht. Die zwei klinischen Biographien von A. R. Lurija werden beiden Aspekten gerecht: ‹The Man with a Shattered World) befaßt sich mit Ausfällen, (The Mind of a Mnemonist) mit Überschüssen. In meinen Augen ist das zweite Werk das bei weitem interessantere und originellere, denn hier geht es im Grunde um die Erforschung des Vorstellungsvermögens und des Gedächtnisses (und eine solche Erforschung ist in der klassischen Neurologie nicht möglich).
    Bei den Fällen, die ich in ‹Bewußtseinsdämmerungen› schilderte, herrschte sozusagen ein inneres Gleichgewicht zwischen den schrecklichen Äußerungen von Geistesgestörtheit vor der Behandlung mit L-Dopa - Akinesie, Abulie, Adynamie, Anergie usw. - und den fast gleichermaßen schrecklichen Auswüchsen nach der Behandlung mit L-Dopa - Hyperkinese, Hyperbulie, Hyperdynamie usw.
    Hier sehen wir die Entstehung neuer Arten von Bezeichnungen, von Bezeichnungen und Konzepten, die sich nicht auf Funktionen beziehen: Impuls, Wille, Dynamik, Energie. Diese Bezeichnungen sind im wesentlichen kinetisch und dynamisch, während die in der klassischen Neurologie verwendeten im wesentlichen statisch sind. Und im Geist eines Mnemonikers sehen wir Dynamismen einer weit höheren Ordnung am Werk: das Drängen sich fortwährend verästeln der und fast unkontrollierbarer Assoziationen und Vorstellungen, eine ausufernde Zunahme des Denkens, eine Art Teratom des Geistes, das der Mnemoniker in Lurijas Buch «Es» nennt.
    Aber auch die Bezeichnung «Es» oder «Automatismus» ist zu mechanistisch. Die beunruhigend lebendige Art des Prozesses wird besser durch Begriffe wie «Auswuchs» oder «Verästelung» wiedergegeben. Bei dem Mnemoniker oder bei meinen infolge der L-Dopa-Behandlung überenergetischen, zu neuem Leben erweckten Patienten können wir eine übersteigerte, monströse oder verrückte Art von Lebhaftigkeit beobachten. Es handelt sich hierbei nicht lediglich um einen Überschuß, sondern um eine organische Wucherung, eine Hervorbringung - um Wachstum; nicht einfach um eine Unausgewogenheit, die Störung einer Funktion, sondern um die Störung eines generativen Geschehens.
    Angesichts eines Falles von Amnesie oder Agnosie könnten wir uns vorstellen, daß lediglich eine Funktion oder Fähigkeit beeinträchtigt ist, aber bei Patienten mit Hypermnesie und Hypergnosie müssen wir feststellen, daß das Erinnerungs- und Erkenntnisvermögen

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