Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
anführt, erläutern dies auf dramatische und oft komische Weise. Die folgende Liste ist ein Aus zug aus seinem umfassenden Abschlußbericht:
«‹White Christmas› (Fall 4). Von einem Chor gesungen. (Rolling Along Together) (Fall 5). Wurde vom Patienten nicht erkannt, wohl aber von einer Operationsschwester, als der Patient es während der Stimulation vorsummte. (Husha-Bye Baby› (Fall 6). Wurde von der Mutter des Patienten gesungen, ist jedoch wahrscheinlich auch die Erkennungsmelodie einer Radiosendung.
‹Ein Lied, das er schon einmal gehört hatte und das oft im Radio gespielt wurde) (Fall 10).
‹Oh Marie, Oh Marie› (Fall 30). Erkennungsmelodie einer Radiosendung.
‹The War March of the Priests› (Fall 31). Dies war auf der Rückseite der Platte ‹Hallelujah Chorus›, die dem Patienten gehörte.
‹Vater und Mutter des Patienten singen Weihnachtslieder› (Fall 32).
‹Musik aus dem Musical Guys and Dolls) (Fall 37). ‹Ein Lied, das sie oft im Radio gehört hatte) (Fall 45).
‹I'll Get By› und ‹You'll Never Know› (Fall 46). Lieder, die er oft im Radio gehört hatte. »
In jedem Fall war - wie bei Mrs. UM. - der Ablauf der Lieder fixiert und stereotyp. Die Probanden hörten immer wieder dieselbe Melodie (beziehungsweise dieselben Melodien), ganz gleich, ob der Anfall spontan einsetzte oder durch eine elektrische Stimulation von Punkten auf der Hirnrinde hervorgerufen wurde. Diese Melodien sind also nicht nur im Radio, sondern auch bei halluzinatorischen Anfällen beliebt - sie sind sozusagen die «Hitparade der Hirnrinde».
Werden, so müssen wir uns fragen, bestimmte Lieder (oder Szenen) von bestimmten Patienten für eine Reproduktion im Verlauf ihrer halluzinatorischen Anfälle aus einem bestimmten Grund «ausgewählt»? Auch Penfield hat sich diese Frage gestellt und ist zu dem Schluß gekommen, daß die Auswahl keinen Grund hat und daß ihr gewiß keine Bedeutung zukommt: «Es wäre, selbst wenn man sich dieser Möglichkeit deutlich bewußt ist, sehr schwer, sich vorzustellen, daß einige der Lieder oder der nebensächlichen Ereignisse, an die sich der Patient ,während des epileptischen Anfalls oder der Stimulation erinnert, irgendeine emotionale Bedeutung für ihn haben. »
Die Auswahl, so schließt er, geschieht «völlig willkürlich, wenn man davon absieht, daß einiges auf eine kortikale Konditionierung hindeutet». Dies ist die Sprache, ist sozusagen die Einstellung des Physiologen. Vielleicht hat Penfield recht - aber könnte es nicht sein, daß doch mehr dahintersteckt? Ist er sich der möglichen emotionalen Bedeutung der Lieder, ist er sich dessen, was Thomas Mann die «Welt hinter der Musik; bannte, wirklich «deutlich bewußt», und zwar auf jener Ebene, auf die es ankommt? Sind oberflächliche Fragen, wie zum Beispiel «Hat dieses Lied für Sie eine besondere Bedeutung?» wirklich ausreichend? Das Studium der «freien Assoziationen» hat uns nur zu deutlich vor Augen geführt, daß scheinbar völlig nebensächliche oder willkürliche Gedanken plötzlich eine unerwartete Tiefe und Resonanz erhalten können, was allerdings nur offenbar wird, wenn auch die Analyse in die Tiefe geht. Anscheinend hat weder Penfield noch ein anderer Forscher auf dem Gebiet der Psychophysiologie eine solche Tiefenanalyse vorgenommen. Es ist nicht gesichert, daß sie Ergebnisse zeitigen würde; doch angesichts der außergewöhnlichen Gelegenheit, die sich durch das Auftreten dieser bunten Mischung unwillkürlich halluzinierter Lieder und Szenen bietet, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, daß eine solche Analyse einen Versuch wert wäre.
Ich habe Mrs. O'M. noch einmal kurz aufgesucht, um her auszubekommen, welche Assoziationen, welche Gefühle sie mit ihren «Liedern» verbindet. Ein wichtiger Punkt ist bereits ans Licht gekommen. Obwohl sie mit keinem der drei Lieder irgendeine bewußte Emotion oder Bedeutung verbindet, erinnert sie sich inzwischen (und das wird von anderen bestätigt), daß sie diese Melodien, lange bevor sie Gegenstand ihrer halluzinatorischen Anfälle wurden, vor sich hin zu summen pflegte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Das läßt die Vermutung zu, daß sie schon damals eine unbewußte «Auswahl» getroffen hatte - eine Auswahl, die dann von einer unvermutet auftretenden organischen Pathologie «übernommen» wurde. Sind diese Lieder heute immer noch ihre Lieblingslieder?
Bedeuten sie ihr noch etwas? Verschafft ihr die halluzinierte Musik irgendeine
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