Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Befriedigung? Einen Monat nach meinem Besuch bei Mrs. O'M. las ich in der New York Times einen Artikel mit der Oberschrift «Hatte Schostakowitsch ein Geheimnis?» Sein «Geheimnis» - so lautete die These des chinesischen Neurologen Dajue Wang - sei ein beweglicher Granatsplitter im Schläfenhorn des linken Ventrikels gewesen. Schostakowitsch hatte sich offenbar sehr dagegen gesträubt, diesen Splitter entfernen zu lassen: «Seit seiner Verletzung, so sagte er, könne er immer, wenn er seinen Kopf auf die Seite lege, Musik hören. Sein Kopf sei dann von jedesmal anderen Melodien erfüllt gewesen, die er danach in seinen Kompositionen verarbeitet habe. »
Auf Röntgenaufnahmen war angeblich zu sehen, daß der Splitter seine Lage veränderte, wenn Schostakowitsch seinen Kopf bewegte, und daß er Druck auf den «musikalischen» Schläfenlappen ausübte, wenn der Komponist seinen Kopf zur Seite neigte, so daß er eine unendliche Fülle von Melodien vernahm, aus der er schöpfen konnte. R. A. Henson, Herausgeber des Werkes ‹Music and the Brain› (1977), war zwar äußerst skeptisch, wollte etwas Derartiges aber auch nicht ganz ausschließen: «Ich würde zögern zu bestätigen, daß es so etwas nicht geben kann. »
Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, gab ich ihn Mrs. O'M., bei der er eine eindeutige Reaktion hervorrief. «Ich bin kein Schostakowitsch», sagte sie. «Aus meinen Liedern kann ich nichts machen. Jedenfalls habe ich sie satt - es sind immer dieselben. Für Schostakowitsch mögen musikalische Halluzinationen eine Gabe Gottes gewesen sein, aber für mich sind sie eine Folter. Er wollte sich nicht behandeln lassen, aber ich wüßte nichts, was ich lieber täte. »
Ich gab Mrs. O'M. krampflösende Mittel, und fortan litt sie nicht mehr an musikalischen Halluzinationen. Als ich sie kürzlich traf, fragte ich sie, ob sie ihr fehlten. «Ganz und gar nicht», antwortete sie. «Ohne sie fühle ich mich viel besser. » Bei Mrs. O'C. hingegen war das, wie wir gesehen haben, nicht der Fall.
Ihre Halluzinationen waren alles in allem komplexer, geheimnisvoller und tiefer, und wenn sie auch zufällige Ursachen hat-
ten, s0 erwiesen sie sich in psychologischer Hinsicht doch als sehr bedeutsam und nützlich.
Mrs. O'C.s Epilepsie entwickelte sich von Anfang an anders, sowohl hinsichtlich der physiologischen Aspekte als auch des «individuellen» Charakters des Anfalls und seiner Heftigkeit. Während der ersten zweiundsiebzig Stunden befand sie sich in einem fast permanenten Anfall oder «Status», der durch eine Apoplexie im Schläfenlappen hervorgerufen worden war. Dies allein war schon sehr ungewöhnlich. Zwei tens, und auch dies hatte eine physiologische Grundlage (nämlich die Abruptheit und das Ausmaß des Schlaganfalls sowie seine Auswirkungen auf die tiefliegenden «emotionalen Zentren» - Uncus, Mandelkern, limbisches System usw. - im Gehirn und im Schläfenlappen), waren diese Anfälle von einer überwältigenden Emotion und einer tiefen (und ausgesprochen nostalgischen) Zufriedenheit begleitet: Mrs. O'C. hatte das überwältigende Gefühl, wieder ein Kind zu sein und in ihrem lange vergessenen Elternhaus in den Armen ihrer Mutter zu liegen.
Es ist möglich, daß solche Anfälle sowohl physiologischen als auch persönlichen Ursprungs sind, das heißt, daß ihr Ausgangspunkt einerseits in bestimmten belasteten Teilendes Gehirns liegt, daß sie aber andererseits gewissen psychischen Umständen und Bedürfnissen entsprechen.
Dennis Williams (1956) beschreibt einen solchen Fall: «Ein einunddreißig Jahre alter Vertreter (Fall 2770) bekommt heftige epileptische Anfälle, wenn er sich allein unter Fremden befindet. Sie setzen mit einer visuellen Erinnerung an sein Elternhaus und seine Eltern ein, die von dem Gefühl begleitet ist: ‹Wie herrlich, wieder zu Hause zu sein!› Diese Erinnerung beschreibt er als sehr angenehm. Er bekommt dann eine Gänsehaut, und es wird ihm abwechselnd heiß und kalt. Darauf folgt entweder das Anfallsereignis, oder er krampft. »
Williams schildert diese erstaunliche Geschichte ohne jeden Kommentar und stellt auch keine Verbindung zwischen ihren Teilen her. Das Gefühl wird als rein physiologisch - als unangemessene «kurze Krampfaura» abgetan, und auch die mögliche Verbindung zwischen der Einsamkeit und dem Ge
fühl, «wieder zu Hause» zu sein, wird außer acht gelassen. Es kann natürlich sein, daß Williams recht hat - vielleicht hat das alles tatsächlich rein
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