Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
physiologische Gründe -, aber ich muß sagen: Wenn man schon Anfälle haben muß, dann hat dieser Mann, Fall 2770, es geschafft, die richtigen Anfälle zur rechten Zeit zu haben.
    In Mrs. O'C.s Fall war das nostalgische Bedürfnis chronischer und tiefergehend, denn ihr Vater starb vor ihrer Geburt und ihre Mutter, bevor sie fünf Jahre alt war. Allein und als Vollwaise wurde sie zu einer ziemlich strengen, unverheirateten Tante nach Amerika geschickt. Mrs. O'C. verfügte über keine bewußte Erinnerung an die ersten fünf Jahre ihres Lebens - sie konnte sich nicht an ihre Mutter, an Irland, an ihr «Zuhause» erinnern. Daß diese ersten, kostbarsten Jahre ihres Lebens fehlten oder in Vergessenheit geraten waren, hatte sie immer mit einer tiefen, schmerzlichen Traurigkeit erfüllt. Sie hatte oft, aber erfolglos, versucht, ihre verlorengegangenen Kindheitserinnerungen wiederzuerlangen. Mit ihrem Traum und dem langen «Traumzustand», der auf ihn folgte, hatte sie nun einen wichtigen Teil ihrer vergessenen, verlorenen Kindheit wiedergefunden. Sie überkam nicht einfach eine «kurze Krampfaura», sondern ein beseligendes Glücksgefühl. Es war, sagte sie, als habe sich eine Tür geöffnet - eine Tür, die ihr ganzes Leben lang verschlossen gewesen war.
    In ihrem faszinierenden Buch über «unwillkürliche Erinnerungen» «A Collection of Moments›, 1970) schreibt Esther Salaman über die Notwendigkeit, «die heiligen und kostbaren Erinnerungen an die Kindheit» zu bewahren oder wiederzuerlangen, und weist darauf hin, wie verarmt unser Leben ist, auf welch tönernen Füßen es steht, wenn wir diese Erinnerungen nicht haben. Sie spricht von der tiefen Freude, dem Gefühl der Realität, das das Wiedererlangen dieser Erinnerungen vermitteln kann, und belegt sie mit zahlreichen, sorgfältig zusammengestellten autobiographischen Zitaten, hauptsächlich von Dostojewski und Proust. Wir alle sind «aus unserer Vergangenheit vertrieben» worden, schreibt sie, und daher müssen wir sie wiedererlangen. Bei Mrs. O'C., die sich nach fast neunzig Jahren dem Ende eines langen, einsamen Lebens näherte, wurde dieses Wiedererlangen der «heiligen und kostbaren» Kindheitserinnerungen, diese seltsame und fast wundersame Rückerinnerung, die die verschlossene Tür, die Amnesie der Kindheit durchbrach, paradoxerweise durch eine Störung der Hirnfunktion ausgelöst.
    Im Gegensatz zu Mrs. O'M., für die die Anfälle unangenehm und aufreibend waren, empfand Mrs. O'C. sie als geistige Wohltat. Sie gaben ihr ein Gefühl von Realität, ein Gefühl, in seelischer Hinsicht festen Boden unter den Füßen zu haben, und bestätigten ihr etwas ganz Elementares, das sie in den Jahrzehnten des Abgetrenntseins und des «Exils» verloren hatte: daß sie tatsächlich eine Kindheit und ein Zuhause gehabt hatte, daß sie tatsächlich bemuttert, geliebt und umsorgt worden war. Mrs. O'M. wollte behandelt werden, aber Mrs. O'C. lehnte Antikonvulsiva ab. «Ich brauche diese Erinnerungen», sagte sie. «Ich brauche das, was mit mir passiert... Es wird ohnehin bald vorbei sein. »
    Dostojewski hatte zu Beginn seiner Anfälle «psychische Anfälle» oder «komplexe Bewußtseinszustände». Über sie sagte er einmal: «Ihr gesunden Menschen könnt euch nicht vorstellen, was für ein Glücksgefühl wir Epileptiker in der Sekunde vor unserem Anfall empfinden... Ich weiß nicht, ob diese Seligkeit Sekunden, Stunden oder Monate dauert, aber glauben Sie mir: Ich würde sie nicht gegen alle Freuden eintauschen, die das Leben bereithalten mag. »
    Mrs. O'C. hätte das verstanden. Auch sie überkam während ihrer Anfälle eine umfassende Seligkeit, und ihr erschienen sie als Inbegriff der geistigen und körperlichen Gesundheit - für sie waren sie der Schlüssel, das Tor zum Wohlbefinden. Infolgedessen empfand sie ihre Krankheit als Gesundheit, als Heilung.
    Während ihrer Genesung empfand Mrs. O'C. eine Zeitlang Wehmut und Furcht. «Das Tor schließt sich», sagte sie. «Ich verliere wieder alles. » Und so geschah es: Mitte April hörten ihre unvermittelt hereinbrechenden Erinnerungen an Szenen, Musik und Gefühle aus ihrer Kindheit, ihre plötzlichen epileptischen «Reisen» in jene vergangene Welt auf. Hierbei handelte es sich zweifellos um authentische «Reminiszenzen», denn das, was in solchen Anfällen aufgegriffen und reproduziert wird, ist, wie Penfield unwiderlegbar nachgewiesen hat, keine Ausgeburt der Phantasie, sondern erfahrene Realität. Es handelt sich

Weitere Kostenlose Bücher