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Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Titel: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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hierbei um Segmente aus dem Leben, aus der erlebten Vergangenheit eines Menschen.
    Aber Penfield spricht in diesem Zusammenhang immer von «Bewußtsein» und erklärt, bei psychischen Anfällen werde ein Teil des Bewußtseinsstroms, der bewußten Realität ergriffen und krampfartig wiedergegeben. Was den Fall von Mrs. O'C. jedoch so bewegend und bedeutsam macht, ist die Tatsache, daß die epileptische «Erinnerung» etwas Unbewußtes aufgriff - nämlich Erlebnisse aus der sehr frühen Kindheit, die entweder verblaßt waren oder vom Bewußtsein unterdrückt wurden - und diese Inhalte krampfartig in das Gedächtnis und das Bewußtsein zurückführte. Und aus diesem Grund, so muß man annehmen, hat sie diese Erfahrung selbst nicht vergessen, ob wohl sich, physiologisch gesehen, das «Tor» wieder schloß. Sie hinterließ einen tiefen und dauerhaften Eindruck als bedeutsames und heilsames Erlebnis. «Ich bin froh, daß das passiert ist», sagte Mrs. O'C., als alles vorbei war. «Es war die gesündeste, glücklichste Erfahrung meines Lebens. Heute fehlt mir nicht mehr ein großes Stück meiner Kindheit. Ich kann mich jetzt nicht mehr an die Details erinnern, aber ich weiß, daß die Erinnerung irgendwo in mir ist. Ich empfinde eine Ganzheit, die ich vorher nie gekannt habe. »
    Das waren keine leeren Worte - es war eine wahre und mutige Feststellung. Mrs. O'C. s Anfälle hatten eine Art « Wandlung »zur Folge, verliehen ihrem Leben einen Mittelpunkt und gaben ihr die verlorene Kindheit zurück - und damit eine heitere Gelassenheit, die sie nie zuvor gekannt hatte und die sie bis ans Ende ihres Lebens behielt, eine unerschütterliche heitere Gelassenheit und eine geistige Geborgenheit, wie sie nur denjenigen eigen ist, die ihre Vergangenheit kennen und besitzen.
Nachschrift
     «Ich bin nie wegen ‹Erinnerungen› allein konsultiert worden...» schrieb Hughlings Jackson; Freud dagegen behauptete, Neurosen seien Erinnerungen. Anscheinend wird das Wort im entgegengesetzten Sinne verwendet, denn das Ziel der Psychoanalyse, s0 könnte man sagen, besteht darin, falsche oder phantasierte «Reminiszenzen» durch eine echte Erinnerung oder Wiedererinnerung an die Vergangenheit zu ersetzen (und gerade eine solche echte Erinnerung, sei sie nun bedeutsam oder belanglos, wird im Verlauf eines psychischen Anfalls heraufbeschworen). Man weiß, daß Freud Hughlings Jackson sehr bewunderte, aber es ist nicht bekannt, 0b Hugh lings - Jackson, der 1911 starb, je von Freud gehört hatte.
    Das Außerordentliche eines Falles wie dem von Mrs. O'C. liegt darin, daß er sowohl «jacksonisch» wie «freudianisch» ist. Sie litt an einer Jacksonschen «Erinnerung», aber diese bewirkte, daß sie, wie durch eine Freudsche «Anamnese», ge heilt und in der Vergangenheit verankert wurde. Solche Fälle sind äußerst interessant und aufschlußreich, denn sie schlagen eine Brücke zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen und weisen, wenn wir es zulassen, den Weg zu einer neuen Neurologie, einer Neurologie der lebendigen Erfahrung. Ich glaube nicht, daß Hughlings-Jackson darüber erstaunt oder entrüstet gewesen wäre. Vielmehr hat ihm sicherlich etwas Derartiges vorgeschwebt, als er 1880 über «Traumzustände» und «Erinnerungen» schrieb.
    Der Titel des Berichts von Penfield und Perot, den ich im vorigen Kapitel ausführlich zitiert habe, lautet «The brain's record 0f visual and auditory experience» («Die Speicherung von visuellen und auditiven Erfahrungen im Gehirn»). Es stellt sich die Frage, welche Form oder Formen eine solche innere «Speicherung» hat. Bei diesen ganz und gar persönlichen, in der Lebensgeschichte verhafteten Anfällen kommt es zu einer vollständigen Wiedergabe (eines Segments) einer Erfahrung. Was ist das eigentlich, s0 fragen wir uns, was s0 abgespielt werden kann, daß es eine Erfahrung rekonstituiert? Handelt es sich um etwas, das mit einem Film oder einer
    Schallplatte vergleichbar ist und das gewissermaßen mit einem Filmprojektor oder Plattenspieler im Gehirn abgespielt wird? Oder ist es etwas Analoges, aber logisch Vorausgehendes wie etwa ein Drehbuch oder eine Partitur? Was ist die endgültige, die natürliche Form des Repertoires unseres Lebens, jenes Repertoires, das uns nicht nur mit Erinnerungen und «Reminiszenzen» versorgt, sondern auch unsere Vorstellung auf jeder Ebene steuert, von den einfachsten sensorischen und motorischen Bildern bis zu den komplexesten vorgestellten Welten, Landschaften und

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