Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
«Easter Parade» unauslöschlich in Mrs. O'M. s Gehirn bewahrt ist - die Partitur, ihre Partitur all dessen, was sie in dem Moment hörte und fühlte, in dem sich diese Erfahrung in ihr Gehirn eingrub. In ähnlicher Weise muß in den «dramaturgischen» Bereichen von Mrs. O'C.s Gehirn, scheinbar vergessen und doch unversehrt und aktivierbar, das Drehbuch für ihre dramatische Kindheitsszene geruht haben, die sich dort unauslöschlich eingeprägt hatte.
Und vergessen wir nicht, daß, wie Penfields Fälle beweisen, die Entfernung einer winzigen Region der Hirnrinde, jenes Reizfokus, der eine Reminiszenz erzeugt, die sich wieder holende Szene gänzlich löschen und bewirken kann, daß an die Stelle einer spezifischen Erinnerung oder Hypermnesie ein gleichermaßen spezifisches «Erinnerungsloch», eine Amnesie tritt. Dies ist eine ungeheuer wichtige und beängstigende Erkenntnis: daß die Möglichkeit einer wirklichen Operation der Seele, eines neurologischen Eingriffs in die Identität besteht (die unendlich feiner und spezifischer ist als unsere bisherigen plumpen Amputationen und Leukotomien, die den ganzen Charakter dämpfen und deformieren, die individuellen Erfahrungen jedoch nicht berühren können).
Erfahrung und Handeln sind nicht möglich, wenn sie nicht ikonisch organisiert sind. Die «Speicherung im Gehirn» von allem, was lebendig ist, muß ikonisch erfolgen. Es ist dies die endgültige Form der Speicherung, die mit Computer-Programmen nichts zu tun hat. Die endgültige Form. der zerebralen Wiedergabe muß «Kunst» sein oder «Kunst» zulassen: die künstlerische Szenerie und die Melodie von Erfahrung und Handlung.
Aus demselben Grunde muß, wenn die Wiedergabefähigkeit des Gehirns - wie bei Amnesien, Agnosien oder Apraxien -beeinträchtigt oder zerstört ist, die Wiederherstellung dieser Fähigkeit (wenn möglich) mit Hilfe eines doppelten Behandlungsansatzes erfolgen, nämlich durch den Versuch, die beschädigten Programme und Systeme zu rekonstruieren (so wjetische Neurologen verzeichnen große Erfolge auf diesem Gebiet), oder aber dadurch, daß man den direkten Weg wählt und sich auf die Ebene der inneren Melodien und Szenen begibt (wie in ‹Bewusstseinsdämmerungen›, ‹Der Tag, an dem mein Bein fortging›, anhand mehrerer Fälle in diesem Buch, vor allem «Rebecca» [Kapitel 21], sowie in der Einführung zu Teil 4 beschrieben). Jeder dieser Ansätze - oder eine Kombination von beiden ist legitim, wenn wir hirngestörte Patienten verstehen und ihnen helfen wollen: sowohl die «systemorientierte» als auch die «Kunst»-Therapie, am besten jedoch beide.
All dies wurde schon vor hundert Jahren angedeutet - von Hughlings Jackson in seiner Beschreibung von «Erinnerungen» (188o), von Korsakow in seiner Arbeit über Amnesie (1887) und von Freud und Anton in ihren in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschienenen Studien über Agnosien. Ihre bemerkenswerten Einsichten sind infolge der Dominanz einer systematischen Physiologie überdeckt worden und halb in Vergessenheit geraten. Es ist jetzt an der Zeit, sich auf sie zu besinnen und sie sich zunutze zu machen, so daß in unseren Tagen eine neue und schöne «existentielle» Wissenschaft und Therapie entstehen kann. Wenn diese sich mit der systemorientierten Wissenschaft und Therapie verbindet, werden wir über umfassende Erkenntnisse und Heilungsmöglichkeiten verfügen.
Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches habe ich zahllose Fälle von musikalischen «Reminiszenzen» kennengelernt. Diese sind offenbar, zumal bei älteren Menschen, nichts Ungewöhnliches - allerdings hält ihre Angst diese Menschen oft davon ab, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Manchmal liegt (wie bei Mrs. O`C. und Mrs. UM.) ein schwerwiegender pathologischer Befund vor. Gelegentlich hat dieses Symptom - wie in einer kürzlich veröffentlichten Fallstudie (NEJM, 5. September 1985) - seine Ursache in einer Vergiftung, zum Beispiel einer Überdosis Aspirin. Patienten mit schweren Nervenausfällen haben manchmal musikalische «Phantomerscheinungen». In den meisten Fällen liegt jedoch kein pathologischer Befund vor, und der Zustand gibt, wenn er auch lästig ist, im wesentlichen keinen Anlaß zur Besorgnis. (Warum vor allem die musikalischen Teile des Gehirns im Alter für diese «Freisetzungen» so anfällig sind, ist bislang völlig ungeklärt.)
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Nostalgische Ausschweifungen
Die Erinnerungen, die gelegentlich im Zusammenhang mit Epilepsie oder
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