Der Mann, der seine Frau vergaß
Ihr vielleicht wisst, habe ich vor Kurzem einen schweren Gedächtnisverlust erlitten, bei dem mir sämtliche persönlichen Erinnerungen abhandengekommen sind. Mit anderen Worten, ich habe alles vergessen, was vor dem 22. Oktober dieses Jahres geschehen ist. Mit Eurer tatkräftigen Unterstützung hoffe ich, meine persönliche Geschichte anhand Eurer Erinnerungen rekonstruieren zu können.
Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr einen Blick auf die Wikipedia-Seite werfen könntet, die ich eingerichtet habe, und Fehlendes ergänzen bzw. falsche Angaben korrigieren würdet. So weiß ich beispielsweise, dass ich die University of Bangor besucht habe. Falls auch Ihr dort studiert habt, würde ich mich freuen, wenn Ihr die Namen von Dozenten, eine Liste der Arbeitsgemeinschaften, denen ich angehörte, oder aber lustige Anekdoten beisteuern könntet, die Euch erinnernswert erscheinen. Ich hoffe, dass sich daraus nach und nach ein umfassendes Bild meines früheren Lebens ergeben und mir diese Seite dabei helfen wird, mich an die Zeit vor meiner Amnesie zu erinnern.
Vielen Dank,
Vaughan
In seinem unerschütterlichen Glauben an das Potenzial nutzergenerierter Inhalte hatte Gary eine Initiative zur detaillierten Rekonstruktion meiner bisherigen Biografie ins Leben gerufen. Er verschickte meinen Appell per E-Mail, postete ihn auf Facebook und – unter der Rubrik »Aktuelles« – auch auf YouNews, obwohl ich mir davon nicht allzu viel versprach. Ich hatte verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, meine persönliche Geschichte zurückzuerlangen; ich wollte mehr über meine graue Vorzeit erfahren, Zahlen und Daten pauken und begreifen, wie was womit zusammenhing.
»Halbwissen ist ein gefährlich’ Ding«, hatte Gary bedeutungsvoll zitiert.
»Wer hat das gesagt?«
»Keine Ahnung. Alexander Soundso … Aha haha!«
Und so hatte ich jetzt quasi die Turboversion eines Facebook/LinkedIn/StayFriends-Profils. So etwas war noch nie dagewesen: Ich würde meine Memoiren nicht selbst verfassen, sondern sie online von der Netzgemeinde schreiben lassen. Nicht einmal zwei oder drei Sitzungen mit meinem Ghostwriter würden mir vergönnt sein. Das alte Manuskript war verloren gegangen und musste neu geschrieben werden, diesmal aus dem Blickwinkel von Zeitzeugen und Weggefährten. Noch gab es in meiner Lebensgeschichte kein »ich«, existierte ich lediglich in der zweiten oder dritten Person. Ich fragte mich, wie sich das wohl auf die Sympathien der Leser auswirkte. Es war, als würde die Geschichte der USA von Großbritannien, Mexiko, Japan, den amerikanischen Ureinwohnern und dem Irak von Grund auf neu geschrieben.
»Eine interessante Idee«, meinte Dr. Lewington, als ich ihr stolz eröffnete, ich wolle meine persönlichen Erinnerungen von anderen zusammentragen lassen. Seit meiner Amnesie waren drei Wochen vergangen, und dies war mein erster Termin in der Klinik. »Trotzdem sollten Sie weiterhin aktiv daran arbeiten, Ihr Gedächtnis wiederzufinden. Schreiben Sie Ihre Erinnerungen auf?«
»Ja, ich habe einen kleinen Notizblock am Bett liegen. Mit lauter leeren Seiten.«
»Und wie fühlen Sie sich in Ihrem Körper? Ich kann Sie immer noch an einen Psychiater oder Therapeuten überweisen, wenn Sie der Meinung sind, dass Ihnen das hilft.«
»Nein, ich bin es, offen gestanden, leid, ständig darüber zu reden. Die Leute halten mich ohnehin schon für verrückt. Da kann ich auf einen Psychiater gut verzichten.«
»Aber das ist doch kein Makel. Sie haben eine äußerst traumatische Erfahrung hinter sich – und leiden an einer schwerwiegenden Bewusstseinsstörung.«
»Nein danke, ich komme schon zurecht. Es geht langsam, aber sicher bergauf. Ich glaube, ich habe mich verliebt …«
»Das ist ja wunderbar. Denn wenn ich mich recht erinnere, wollten Sie sich eigentlich scheiden lassen.«
»Ja. Sie will das auch immer noch, aber ich hege die heimliche Hoffnung, dass sie mich danach ein zweites Mal heiratet.«
»Na schön. Wie gesagt, mein Angebot steht: Wenn Sie einen Psychiater brauchen …«
Am Ende der Sitzung bat mich Dr. Lewington, einen Blick auf meine Web-Biografie werfen zu dürfen, und als sie auf den Link klickte, befiel mich leichte Nervosität. Die Seite war noch keine vierundzwanzig Stunden online, und ich machte mir Sorgen, dass der eine oder die andere die Gelegenheit vielleicht dazu genutzt hatte, eine alte Rechnung zu begleichen oder mich mit Spott und Hohn zu übergießen. Doch dass es so grausam werden würde, damit
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