Der Mann, der seine Frau vergaß
du gesagt hättest: ›Bitte komm mit‹, wäre ich natürlich mitgekommen; aber da du nicht gefragt hast, dachte ich, es ist nicht nötig. Um Gottes willen, du hast keinen Krebs – warum streiten wir eigentlich schon wieder? Das ist doch ein Grund zum Feiern.«
»Unsere Ehe hat Krebs. Aggressiven, inoperablen Krebs im Endstadium. Wenn du in so einer Situation nicht für mich da sein kannst, dann möchte ich, glaube ich, nicht mehr mit dir verheiratet sein …«
»Pass auf, ich verstehe, dass du nicht klar denken kannst. Aus Angst vor dem Lymphom hast du die Maßstäbe aus den Augen verloren. Was hältst du davon, wenn ich mir ein paar Tage freinehme und wir mit den Kindern zu deinen Eltern fahren …«
»Es ist zu spät, Vaughan. Du warst nie für mich da. Im Grunde hast du bis heute nicht begriffen, was es heißt, verheiratet zu sein – es ging immer nur um dich, nie um uns …«
Und mir wird klar, weshalb sie so sehr geschluchzt hat, denn hätte sie tatsächlich Krebs, wäre sie schweigsam und in sich gekehrt. Sie weint, weil sie das Gefühl hat, dass etwas gestorben ist.
Ich lag im Tomografen und konnte förmlich spüren, wie mein Schädel zu pochen begann, als ich diese schreckliche Nacht noch einmal Revue passieren ließ und mich auf die winzigen Details konzentrierte, die alles so lebendig werden ließen, als wäre es gestern erst geschehen. Der Augenblick, als Maddy unserem Gespräch ein jähes Ende machte und mitsamt ihrem Bettzeug ins Gästezimmer umzog, das sie erst nach unserer Trennung wieder verließ. Die kaputte Glühbirne in der Nachttischlampe, die ich schon seit Ewigkeiten hatte auswechseln wollen. Das quälende Pochen in meinem Schädel und der lähmende Kopfschmerz, der mir bis zum Morgengrauen Gesellschaft leistete.
Als ich so in der Maschine lag, wurde mir bewusst, dass mir soeben eine neue Erinnerung gekommen war. Da es sozusagen live und vor laufender Kamera geschehen war, musste der Tomograf registriert haben, was passierte, wenn eine neue Datei geöffnet wurde und mein Gehirn auf verschütt geglaubte Informationen zugriff. Ich hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen! Es konnte gar nicht anders sein; während der gesamten Auseinandersetzung, die das Ende unserer Ehe besiegelte, hatte ich rasende Kopfschmerzen und spürte, wie sich an meinem Hinterkopf eine große, empfindliche Schwellung bildete. Ja, ich musste eine Gehirnerschütterung erlitten haben. Genau das hatte ich Maddy sagen wollen: Vor der Schule war ich von einem wütenden Vater zur Rede gestellt worden, der mich bezichtigte, seinen Sohn »auf dem Kieker« zu haben. Er hatte mich zu Boden gestoßen, und ich war mit dem Hinterkopf auf dem Bordstein aufgeschlagen und hatte eine Gehirnerschütterung davongetragen. Obwohl ich den Helden gespielt und mich standhaft geweigert hatte, ins Krankenhaus zu fahren, wusste ich, dass es mich ziemlich böse erwischt hatte.
Plötzlich wurde mir klar, dass meine Amnesie unter Umständen eine Spätfolge dieser Verletzung war. Darum hatte ich Maddys Untersuchungsergebnisse vergessen! Nicht Desinteresse oder gar Egoismus war der Grund – sondern eine Gehirnerschütterung. Dies war das erste Symptom einer Amnesie, die mich später sozusagen mit Haut und Haaren verschlingen sollte.
Dr. Lewington rief mich in ihr Sprechzimmer, und ich erzählte ihr, was vorgefallen war. Zwar interessierte sie sich durchaus für den Schlag auf meinen Kopf, doch zu ihrem Erstaunen und ihrer großen Freude war das mitnichten der erhoffte Schlüssel zu des Rätsels Lösung. Sie zeigte mir die Resultate der verschiedenen Scans. Auf einem Bild wies der mittlere Bereich meines Gehirns jede Menge blauer und roter Flecken auf. Auf allen anderen Bildern war es genau dasselbe. »Ist das nicht wunderbar? Nicht der geringste Unterschied!«, frohlockte sie. »Das Gehirn ist und bleibt ein faszinierendes Mysterium!« Nicht einmal der Augenblick, in dem mir die neue Erinnerung gekommen war, hatte zu einer sichtbaren Veränderung der Hirnaktivität geführt.
Auf Dr. Lewingtons Schreibtisch stand das lebensgroße Keramikmodell eines menschlichen Kopfes, versehen mit einer schematischen Darstellung der Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, die die Phrenologie, eine schwachsinnige Pseudowissenschaft aus der Zeit Königin Viktorias, den verschiedenen Hirnregionen zugeordnet hatte. In den hundertfünfzig Jahren, die seither vergangen waren, hatte die Forschung ungeheure Fortschritte gemacht. Inzwischen wussten sie, dass sie
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