Der Mann, der starb wie ein Lachs
antiseptische Krankenhauskühle ersetzt wurde. Salubrin, dachte er. Es roch immer nach aufgeschürften Knien im Krankenhaus. Er ging weiter über den Marmorfußboden und dann eine Wendeltreppe hinauf, bis er an eine Tür mit einem handgemalten Schild kam: Eberesche. Im Korridor davor war es still. Eine buckelige Alte schlurfte mit ihrem Gehwagen dahin, so langsam, dass man kaum eine Bewegung wahrnehmen konnte. Ein Pantoffel schurrte langsam über den Fußboden und verstummte. Dann der andere Pantoffel. Irgendwo aus einem Zimmer war plötzlich ein Aufheulen zu hören, eine Art Jaulen. Ebenso plötzlich war es wieder verstummt. Eino trat an eine Tür am äußersten Ende des Ganges und öffnete sie vorsichtig. Zwei Eisenbetten standen im Raum. Auf dem einen saß ein bärtiger Krankenpfleger in den Vierzigern.
»Hallo, Janne«, grüßte Eino.
Jan Niemi stand auf, ein kräftig gebauter, ehemaliger Grubenarbeiter mit freundlichem Blick, der sich aufgrund der Arbeitslosigkeit hatte umschulen lassen.
»Ei se syö«, sagte er bekümmert. »Er isst nichts.«
Im Bett lag ein fast vollkommen kahlköpfiger alter Mann, sein Schädel übersät von unregelmäßigen Leberflecken. Das Gesicht ähnelte einem fest verschnürten alten Rucksack. Die Augenbrauen waren weiß und struppig, darunter starrte ein graublauer Blick voller Trotz.
»Mie saatan freistata. Ich kann es versuchen.«
Jan nickte und verließ den Raum, von draußen war Lärm zu hören. Eino setzte sich auf die Bettkante, ergriff den Teller mit Gulasch und Karotten und betrachtete seinen alten Vater. Erinnerte sich daran, wie sie eine Jagdhütte gebaut hatten. Vaters verschwitzter, sonnengebräunter Rücken, die Pferdebremsen, die summten, Holzplanken, Dreizoll-Nägel, die in die Latten gehämmert wurden. Keine unnötigen Worte. Nur Arbeit, die Freuden der Arbeit. Die Zöllneruniform, die den ganzen Urlaub über unberührt an der Garderobe hing. Muskeln, die angenehm zogen, das Blubbern der Kaffeekanne über dem offenen Feuer.
Das gibt es nicht mehr, dachte Eino. Nur noch Haut und Knochen. Den Tod.
»Was macht die Hüfte?«, frage er auf Tornedalfinnisch.
Sein Vater zischte. Fluchte mit kraftloser Stimme. Verfluchte die Götter und den Landtag, bis die Luft nicht mehr reichte und er mit pfeifenden Zügen zu husten begann.
»Ich werde dich nach Hause holen«, sagte Eino. »Wenn sie erst geheilt ist. Du musst laufen können, um allein zurechtzukommen.«
»Ja, ja«, erwiderte der Vater. »Ja, ja …«
»Nach Hause und in die Sauna. Wie wäre das, Papa, die Sauna und einen Schnaps.«
»Voi saatanan helvetgin Lanstingi …«
«Jetzt denken wir nicht mehr daran. Ich muss zurück zur Arbeit. Aber ich wollte dich vorher noch etwas fragen.«
Er wartete, bis sein Vater sich beruhigt hatte, wischte ihm mit einer Papierserviette den Schleim aus den Mundwinkeln.
»Hast du gehört, was mit Martin Udde passiert ist?«, fuhr er dann auf Meänkieli fort.
Nur ein Glück, dass ich Finnisch gelernt habe, dachte er, obwohl es als hässlich und unnötig angesehen wurde. Schließlich war Tornedalfinnisch ja die Muttersprache seines Vaters, wie die der ganzen Generation. Die Sprache der Gefühle. Die dem Herzen am nächsten lag. Schwedisch hatten sie in der Schule lernen müssen, und ihr ganzes Berufsleben über waren sie immer zweisprachig gewesen. Aber mit dem Alter und der Senilität begann das Gehirn zu vergessen, die Zeit lief rückwärts. Und das, was sie zuletzt gelernt hatten, verschwand als Erstes. Wozu Schwedisch gehörte. Die Worte waren immer schwerer ins Gedächtnis zu rufen, ihre Bedeutung immer unsicherer. Während das Tornedalfinnisch bis zum Ende sicher saß, solange es überhaupt noch eine Sprache gab. An den Krankenlagern auf den Pflegestationen saßen inzwischen immer häufiger die jungen, schwedischsprachigen Kinder und lauschten ihren finnischsprachigen, alten Angehörigen, ohne noch mit ihnen kommunizieren zu können. Stummheit. Ein Sprachriss direkt durch die Generationen, die den gesamten alten reichen Wortschatz abgeschnitten hatte, all die finnischen Namen für die Wälder, die Familiennamen, alle Tornedalschen Scherzworte, alle Geschichten, die auf Tornedalfinnisch erzählt werden müssen, um voll und ganz zur Geltung zu kommen, eine gesamte Kultur, die verblasst und verstummt war, während der Schwede dort auf der Bettkante saß, ohne etwas zu begreifen. Ohne etwas zu verstehen.
»Kuka? Wem?«
»Martin Udde. Haben sie dir erzählt, was mit ihm
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