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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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betrifft. Der Examensarbeit »Kraftausdrücke und Schimpfworte auf Tornedalfinnisch« von Hugo Rantatalo, Umeå Universität 1985, entnehme ich folgendes Zitat: »Es ist interessant, darauf zu verweisen, dass es auf Meänkieli nur vier Worte für Schnee gibt, dagegen aber achtundfünfzig für Geschlechtsverkehr.«
     
    Therese nahm die DVD heraus und schob stattdessen eine DVD mit dem Fernsehprogramm Keksi ein, eine der wenigen Sendungen des schwedischen Staatsfernsehens auf Meänkieli. Sie blätterte sich zu einem Interview mit einer Repräsentantin des Svenska Tornedalingars Riksförbunds vor, Kerstin Johansson, eine Frau in den Fünfzigern mit kurz geschnittenem Haar und eichhörnchenwachem Blick, die in einer Waldlichtung an einem Lagerfeuer saß.
    »Mikäs sulle tornionlaaksolaisena on tärkein?«, fragte der Studioleiter Hasse Alatalo, ein Folkmusiker mittleren Alters in Lederjacke und mit graumeliertem Pferdeschwanz.
    Glücklicherweise gab es schwedische Untertitel:
    »Was ist für dich am wichtigsten daran, dass du Tornedalerin bist?«
    »Kieli, tietenki«, antwortete Kerstin. »Die Sprache natürlich. Tornedalfinnisch ist meine Muttersprache, in ihr sitzen die Gefühle am tiefsten verankert. Was man als Kind lernt, das prägt das ganze Leben.«
    »Dann ist das Tornedal für dich also in erster Linie das Tornedalfinnisch?«
    »Ja, aber daneben haben wir auch unsere Wurzeln im Osten. Das übrige Schweden und fast ganz Europa bestehen ja aus einer mächtigen Landwirtschaftskultur von Menschen, die sich entlang der Küste niedergelassen und die fruchtbare Erde bestellt haben. Während die Samen und die Tornedaler einen ganz anderen Ursprung haben. Wir sind aus dem Osten eingewandert, ursprünglich kommen wir irgendwo aus Asien, aus der Gegend des Uralgebirges, wo die finnisch-ugrische Sprache wahrscheinlich ihren Ursprung hat. Und hier oben, im nördlichsten Skandinavien, da begegnen sich diese beiden Kulturen.«
    »Dann ist der Wald also das Heim der Tornedaler?«
    »Ja, für mich ist es ein Waldgebiet. Die Wälder, die Flüsse, ich glaube, es geht uns allen so. Die Jagd und der Fischfang waren unsere Kultur, solange man zurückblicken kann. Das haben wir im Herzen. Auch wenn ich selbst in diesen modernen Zeiten mit Computer und Übersetzungen arbeite.«
    »Dann locken das Meer und die Küsten dich nicht?«
    »Nein, ich weiß nicht, warum, aber wir haben uns nie für das leichte Leben entschieden. Wir sind in den Norden statt in den Süden gezogen, wir haben die Taiga, die Kälte gewählt, die langen, dunklen Winter.«
    »Ist deshalb unsere Volksmusik so wehmütig?«
    »Ja, vielleicht liegt es daran«, nickte Kerstin Johansson. »Die finnische Volksmusik ist ja fast nur in Moll.«
    »Ja, sogar die schönsten Liebeslieder«, stimmte Hasse Alatalo zu und holte eine Ziehharmonika heraus. Er begann zu spielen und in seinem weichen Finnisch zu singen, auf dem Rentierfell sitzend, während das Feuer brannte:
     
    Hyvän illan sanon sulle, kultani armas
    kun tulen taas sua tervehtimään
    sinisiä silmiä, kasvoias kauneita
    mun teki mieleni katselemaa …
     
    Neben Therese saß eine Dame mittleren Alters in Bürokleidung, mit der Brille an einer Schnur um den Hals. Ab und zu schielte sie neugierig auf Thereses Bildschirm.
    »Sie waren also auch im Norden?«
    »Mm«, murmelte Therese.
    »Ja, man muss ab und zu wieder nach Hause, es ist ja da oben unglaublich schön im Sommer, nicht wahr? Wo waren Sie denn?«
    »Pajala«, sagte Therese kurz angebunden.
    »Aber von dort stamme ich ja auch«, rief die Frau aus. »Kenenkäs tyär sie olet?«
    »Wie bitte?«
    »Ach so, das macht ja nichts, meine Töchter haben auch die Sprache vergessen. Ich habe nur gefragt, wie man es immer da oben macht: Von wem sind Sie denn die Tochter?«
    »Ich bin ich.«
    Das Lächeln der Frau erstarrte, sie murmelte etwas und saß eine Weile regungslos da, bis sie begann, in einer Mappe zu blättern, auf der gedruckt stand: Hotel- & Restauranganställdas Förbund, Gewerkschaft der Hotel- und Gaststättenangestellten.
    Falsche Antwort, dachte Therese. Offensichtlich habe ich falsch geantwortet.
     
    Ein paar Stunden später ließ sich Therese am Fenstertisch in der Birger Jarlsgatan nieder. Ihre Mutter hatte Nachtschicht, deshalb kam sie erst ziemlich spät, in dem blauen Moment des Einhaltens, wenn der Nachmittag in den Abend übergeht. Sie trat in ihrer üblichen energischen Art ins Café, in einem weinroten Emiliamantel, die

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