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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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lassen. Nach Pajala.«
    Esaias beugte sich vor. Spitzte die Lippen, strich damit über das Tier. Sie erschauderte leicht.
    »Es war das Erste, was ich in Tornedal gesehen habe«, sagte sie. »Rentiere am Straßenrand.«
    »Ja?«
    »Sie haben mir einfach gefallen.«
    Er antwortete nicht, betrachtete sie zärtlich. Was für ein Unterschied zu dieser Karrieremieze, die ihn früher einmal im Gerichtsgebäude von Pajala verhört hatte. Hellwache Augen. Bettweiche Haut.
    »Du willst sicher nie von dort wegziehen?«, fragte sie.
    »Aus Tornedal?«
    »Du bist dort in den Wäldern zu Hause, oder? Das ist wohl das, was man Wurzeln nennt. Dass man zwischen unzähligen Bäumen festwächst.«
    Plötzlich klang sie fast höhnisch, sie merkte es selbst und verstummte.
    »Alle haben Wurzeln«, wandte er ein.
    »Nicht alle sind wie du.«
    »Alle stammen irgendwoher. Alle haben Eltern.«
    Sie setzte sich auf, die Decke rutschte herunter.
    »Mein Vater ist gestorben, als ich noch klein war. Und Mama und ich, wir sind die ganze Zeit herumgezogen.«
    »Ich würde deine Mutter gern irgendwann kennen lernen.«
    »Mama? Das glaube ich nicht.«
    »Wieso nicht?«
    Therese schüttelte nur den Kopf. Stand auf und ging mit wippender Brust ins Bad.
    »Aber meine Großmutter kannst du treffen. Ich wollte heute sowieso zu ihr fahren. Aber sie ist ziemlich …«
    Der Rest ertrank in der brausenden Dusche.
     
    Zwei Metallbetten standen im Zimmer. Obwohl es helllichter Tag war, war die Leuchtstoffröhre eingeschaltet, so dass der Raum einen zeitlosen, überirdischen Charakter bekam. Es roch nach unparfümiertem Reinigungsmittel vom Flur her, wo eine kleinwüchsige Immigrantin mit Kopftuch und grotesk großen Gummihandschuhen mit ihrem Putzwagen klapperte. Auf einem Tisch prunkte eine Pelargonie so überschwänglich, dass sie aus Plastik sein musste.
    Ein Bett stand leer, war frisch bezogen. Es sah schön aus, man bekam Lust, sich hineinzulegen und auszuruhen.
    »Wo ist Manfred?«, fragte Therese mit einer Geste zu dem leeren Platz hin.
    Die Pflegerin sah etwas verlegen aus. Sie war rotblond und ziemlich kräftig, wie die Kellnerin in einem deutschen Bierkeller.
    »Er ist abgereist«, sagte sie.
    »Dann ist Manfred also …«
    »Es war nicht während meiner Schicht. Aber es ging schnell, er wollte wohl heim.«
    Religiös, dachte Esaias. Sie mag das Wort »tot« nicht in den Mund nehmen.
    Therese näherte sich dem anderen Bett. Auf dem Kopfkissen lag ein verschrumpelter Frauenkopf, umgeben von spärlichen grauen Haarsträhnen. Der Mund war eingesunken, ohne Zahnprothese. Die braunen Lippen waren zu einem O geformt, und die Augen waren unangenehm nach oben verdreht.
    »Oma …«
    Die Iris wurde befeuchtet, bekam Leben. Lange, runzlige Finger begannen am Laken zu zupfen. Man sah fast nur Gesicht und Hände, der Rest des Körpers verschwand in dem weißen Nachthemd.
    »Oma, ich bin's, Therese.«
    »Jä jä jä jä«, war zu hören, »Jä jä jä jä …«
    »Bist du müde, Oma?«
    »Je je je je je …«
    Esaias betrachtete die Fotos auf dem Nachttisch. Er erkannte Therese im Alter von sechs Jahren wieder, zusammen mit einer sportlichen Frau, das musste ihre Mutter sein. Ein anderes Foto zeigte einen armseligen kleinen Hof. Im Hintergrund waren Kiefern und Wasser zu erkennen.
    »Wo ist das aufgenommen worden?«, wollte Esaias wissen.
    »Das muss meine Mutter hier hingestellt haben. Oma stammt ja aus Värmland, das war ihr Elternhaus.«
    »Mhm. Mhm.«
    »Hast du Durst, Oma? Willst du was trinken?«
    »He-le-na!«, sagte die Alte plötzlich. Stockend, aber deutlich zu verstehen.
    »Helena ist nicht hier. Ich bin Therese, deine Enkeltochter.«
    Die Alte drehte den Kopf und versuchte sie mit dem Blick einzufangen. Die Lippen formten Worte groß wie Tennisbälle mit einer überraschend kräftigen Stimme. Esaias fing die alte Hand mit den blauen Adern auf. Sie war kalt, aber bei der Berührung lebte sie auf und begann ihn fest zu umklammern.
    »Sie ist ziemlich weit weg«, sagte Therese leise.
    Esaias ließ sich auf einem Hocker nieder, immer noch die Hand der Frau in seiner. Dann beugte er sich über das Kissen und sagte ihr ganz deutlich ins Ohr:
    »Therese ist hier.«
    »He-le-na«, erschallte es von der Alten. »He-le-na …«
    »Wir sind jetzt hier«, sagte Esaias.
    »Das Kind. Das Kind«, erklang es vom Kissen. »Je je je je je …«
    »Was ist, Oma!«, rief Therese und beugte sich genau wie Esaias vor. Die Alte ließ Esaias los und wedelte in der Luft

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