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Der Mann, der starb wie ein Lachs

Der Mann, der starb wie ein Lachs

Titel: Der Mann, der starb wie ein Lachs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mikael Niemi
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einen Knicks macht. Mit eingesunkenem Brustkorb dreht sie sich zu den Lehrern und Schülern und allen Eltern um, die sie aus den Bänken heraus anstarren. Dann fängt sie an zu singen »In dieser schönen Sommerzeit«, zwei Strophen. Die Orgel spielt zu langsam, oder aber sie singt ein wenig zu schnell, es passt nicht so recht zusammen. Ihre Stimme ist heiser von der Atemluft, als würde sie nicht genug Luft holen. Die ganze Zeit wird geflüstert. Die Frau im Popelinemantel dreht sich in verschiedene Richtungen und stöhnt. Der Mann holt ein Taschentuch heraus und wischt ihr sorgfältig den Mund ab. Er faltet das Tuch und tupft dann das Glänzende von ihrer Stirn. Das Lied ist zu Ende, aber niemand applaudiert, weil sich das in der Kirche nicht gehört. Angelica macht noch einen Knicks, in der bedrohlichen Stille rascheln alle Kleider, als Hunderte von Menschen sich anders hinsetzen. Angelica geht zurück in ihre Bank, sie versucht nicht einmal Haltung zu bewahren, sie trottet dahin. Ohne Scheinwerferlicht. Bleich wie eine geschälte Rübe.
    Hinterher quellen die Schüler aus der Kirche heraus, der Schulleiter wünscht ihnen allen schöne, sonnige Sommerferien. In den Straßen weht es stark mit Regenböen dazwischen. Der Mann mit den behaarten Händen führt die schwankende Frau zu einem Volvo Duett mit Dachgepäckträger. Angelica folgt ihnen, den Blick auf den Asphalt gerichtet. Therese holt sie ein und genießt die neidischen Blicke der Mädchen auf ihre engen weißen Sommerjeans.
    »Wie schön du gesungen hast«, versucht sie es zaghaft.
    »Das war ich nicht«, höhnt Angelica. »Du glaubst wohl, dass ich es war, aber das war ich nicht!«
    Therese tritt einen halben Schritt zur Seite, wie nach einem Stoß.
    »Du weißt, Angelica, meine Mutter und ich, wir müssen los …«
    »Das geht schnell vorbei, Therese, die Sommerferien.«
    »Kann ich deine Adresse kriegen …«
    »Bald ist Herbst, und dann werden wir es ihnen zeigen, Therese! Dann werden sie es sehen.«
    Hinten auf dem Parkplatz manövriert der Mann die Frau in den Duett. Seine behaarte Riesenhand winkt Angelica zu, dass sie kommen soll. Die breite Handfläche rudert wie eine Schaufel in der Luft.
    »Was werden sie sehen?«
    Angelica knickt mit den Hüften ein, umarmt sich selbst.
    »Ich hatte auch überlegt, heute eine weiße Hose anzuziehen. Ich stand schon vorm Spiegel in meiner weißen Hose mit Glitzer drauf, ich hätte sie doch anziehen sollen, der ganzen Kirche wären die Augen rausgefallen!«
    Therese blinzelt im Regen. Wischt es weg.
    »Wir bleiben nicht hier«, kriegt sie gerade noch heraus.
    »Im Herbst kannst du sie doch mal mit in die Schule bringen, ja? Damit ich sie anprobieren kann?«
    »Meine weißen Jeans?«
    »Versprich mir das, Therese. Versprich mir das!«
    Einen Moment lang sieht es so aus, als wollte Angelica sie in den Arm nehmen. Doch das geht schnell vorbei, wird vom Wind verweht. Angelica zittert in ihrem dünnen Kleid, es ist kühl. Sie streckt die Hand aus und streicht über die Jeans. Streicht mit den Fingerspitzen. Und jetzt sieht Therese, dass die Nägel vollständig abgekaut sind. Es sind nur noch rotlackierte Nagelstummel vorhanden, über dem angeschwollenen Fleisch. Rotlackierte kleine Fleischklöße.
    »Ja, dann tschüs«, sagt Therese kaum hörbar.
    Angelica nickt schwach. Sie berühren einander nicht, aber es gibt eine Wärme zwischen ihnen. Jetzt dreht Angelica sich um und geht zum Auto. Jetzt verschwindet die Wärme. Jetzt bläst es durch Simrishamn, durch den Hafen, über die blaugraue Hanöbucht hinaus.
     

35
     
    Es war Samstagmorgen geworden. Das ganze Bett duftete nach ihr. Esaias lag darin, umgeben von der Stadt, vollkommen unbeweglich in seinem Schweigen, während ihr Rücken sich in weichen Wellen hob und senkte. Jemand spielte Musik im Haus, war das eine Oboe? Aus einer anderen Richtung war ein dumpfes Klopfen zu hören, unregelmäßig, als versuche ein Gefesselter loszukommen. Oder war das der Bass einer Videoanlage? Ein einsamer Teenagerjunge mit Marmeladenbroten, der die Flucht des Auftragsmörders durch Surabayas Hafenviertel verfolgte?
    Esaias trank den Rest aus dem kalt gewordenen Kaffeebecher. Die Flüssigkeit hatte eine ölige, leicht schimmernde Oberfläche bekommen. Therese drehte sich ein wenig um, klimperte mit den Augenlidern. Ihm war klar, dass sie aufgewacht war.
    »Ist das ein Rentier?«, flüsterte er.
    »Was?«
    »Auf dem Rücken. Ist das ein Ren?«
    »Das habe ich gerade erst machen

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