Der Mann, der starb wie ein Lachs
eine Filmlinse, und alles, was man sah, wurde im Fernsehen gesendet. Jetzt gucke ich Maggan an, jetzt filme ich sie, wie sie ein Papier faltet und immer abwechselnd ein Feld rot, eins schwarz anmalt. Jetzt kommt Bengan mit ins Fernsehprogramm, er legt einen abgekauten Bleistift zwischen die Finger und schlägt damit gegen den Tisch, der Stift bricht mit einem trockenen Knacken durch. Das kommt mit drauf, das wird gesendet, sicher sind es hundert Millionen Zuschauer überall auf der Welt, die seinen Trick sehen.
Auch schrecklich langweiliger Unterricht wurde jetzt interessant. Der Inhalt war vielleicht nicht besonders spannend oder dramatisch, aber er wurde ja live übertragen. Man wusste, dass Millionen Menschen zuschauten. Jedes Auge war wie ein kleiner Stern am Himmelszelt, ein kleines Licht, das heruntersickerte, bis der gesamte Bühnenboden in blendendem Weiß badete.
Sie waren jeden Tag zusammen. Therese kaufte Süßigkeiten und bot sie an, Angelica senkte gnädig den Kopf, bedankte sich aber nie. Sie war eine Königin, ein allmächtiges Wesen, das seine Zeit abwartete. Von ihr ging ein Strahlen aus. Und etwas von diesem Glanz bekam auch Therese ab, brachte auch sie zum Leuchten. Die Klassenkameraden versuchten sie zu trennen. Die Pausen waren erfüllt von Drohungen und Beleidigungen. Der Mob tat alles, um ihnen die Glorie auszutreiben, die Verkündigung, die herrliche Glut. Sie versuchten sie zu verhöhnen und alles in den Schmutz zu ziehen, begegneten dabei aber nur glänzenden Kameraobjektiven. Einem kalten blauen Widerschein.
Nach einem halben Jahr in Simrishamn begann Klement zu saufen. Er kam eines Abends und wollte sich entschuldigen, aber Mama hielt ihn schon im Flur auf, weil sie es roch. Sie sagte ihm auf den Kopf zu, dass er gesoffen hatte. Er widersprach ihr, er habe nicht gesoffen, und nach einer Weile gingen sie hinaus, um zu sprechen. Als Mama nach einer Stunde zurückkam, tat ihr der Arm weh. Oben in der Schulter, es war sicher eine Zerrung. Therese schaltete ihre Filmkamera ein, aber die Bilder begannen zu zittern. Es wurde nicht richtig scharf.
Als sich das Schuljahresende näherte, war alles klar. Sie sollten Simrishamn verlassen. Mama begann, Möbelinserate aufzugeben. Therese überlegte, wie sie es Angelica sagen sollte. Sie musste möglichst bald darüber reden, Jeden Tag saßen sie nebeneinander in der Bank und filmten die Lehrerin oder standen im Schutz der Laderampe des Hausmeisters und trainierten Posen. Beispielsweise die Applauspose oder die Champagnerpose. Jeder Muskel war wichtig, wie man die Fingerglieder hielt oder die Augenwimpern. Angelica zeigte auf Thereses Fuß, die Hacke sollte ein wenig vom Boden abgehoben sein, man sollte ständig wie auf Watte stehen.
»Mama und Klement …«, setzte Therese an.
»Du stehst da wie ein Ochse«, entschied Angelica.
»Mama möchte gern, dass wir …«
»Guck mich an. Guck mich an, so, ja!«
Da lief Therese los. Sie rief gerade noch, dass sie zum Kiosk wolle, etwas kaufen. Doch bei den Fahrrädern blieb sie stehen und fing an, auf ihren Fingernägeln zu kauen. Fest, hartnäckig, bis sich ein Span löste und sie ihn abreißen konnte, dass die Nagelhaut frei lag. Weh, es tat weh. Es wurde rot, eine rote Perle trat hervor. Sie war nicht länger grau. Angelica hatte ihr Farbe gegeben.
Zum Abschlusstag hatte Mama Therese eine freche Jeans gekauft. Fast alle Mädchen trugen Kleider, aber Therese hatte so lange gebettelt, bis ihre Mutter nachgegeben hatte. Es war der letzte Tag. Sie sollte die Klasse nie wiedersehen.
Angelica trug wie alle anderen ein weißes Kleid. Ihr Haar war wieder gekräuselt, sie hatte mit Zöpfen geschlafen. In der St.-Nikolai-Kirche saßen sie auf verschiedenen Bänken. Angelica hatte sich weit nach vorn gesetzt, neben eine breitschultrige und merkwürdig schwankende Frau in braunem Popelinemantel. Dauernd veränderte sie ihre Sitzhaltung. Der Kopf wurde in verschiedene Winkel gedreht, die Kiefer schienen in Krämpfen aufeinandergepresst zu sein, dann wieder riss sie den Mund weit auf, als wäre der Lärm ohrenbetäubend. Auf der anderen Seite von Angelica saß ein Mann mit schrecklich großen, behaarten Händen. Er streichelte Angelicas Schulter am Kleiderkragen, genau dort, wo die Haut anfing. Ab und zu zuckte sie, kam aber nicht richtig los, wie ein feingliedriges Insekt.
Und plötzlich, auf ein Zeichen des Kantors, steht Angelica auf. Sie geht mit verkrampften Schultern den Gang entlang, bis zum Altar, wo sie
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