Der Mann, der wirklich liebte
Sein Freund sprang auf und sah der jungen Ärztin gespannt entgegen, die nun mit besorgtem Gesicht auf die beiden zukam. Sie trug einen grünen OP-Kittel mit V-Ausschnitt, ihre Haube hielt sie zusammengeknüllt in der Hand. Die Haare klebten ihr feucht am Kopf, und an ihrem Hals erkannte man hektische rote Flecken. Sie öffnete den Mund und fragte:
»Wer von Ihnen beiden ist Herr Röhrdanz?«
Thomas zeigte auf ihn, während Röhrdanz vergeblich versuchte, aufzustehen.
Die junge Ärztin ließ sich erschöpft neben ihn fallen.
»Sie müssen jetzt sehr tapfer sein«, stieß sie hervor, und plötzlich mischte sich ein unterdrücktes Schluchzen in ihre Worte.
Röhrdanz hob seine bleischweren Augenlider. Zu seinem Entsetzen sah er, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
Wenn selbst die Ärztin heult, dachte er …
Er versuchte etwas zu sagen, doch außer einem heiseren Krächzen brachte er keinen Laut hervor.
»Sie müssen stark sein, sehr stark! Ihre Frau ist krank, sehr krank!«, wiederholte die junge Ärztin gebetsmühlenartig, so als spräche sie mit einem Kind, das sowieso nichts begreift. Es war fast eine Art Singsang, und Röhrdanz konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich damit selbst trösten wollte.
»Ja, aber was hat sie denn, mein Gott noch mal?«, schrie Thomas dazwischen. »Darf er zu ihr?«
»Nein, das geht jetzt nicht, sie wird immer noch operiert.« Die Ärztin zog die Nase hoch und kramte in ihrer Kitteltasche nach einem Taschentuch.
»Wann kann ich sie sehen?«, stieß Röhrdanz schließlich hervor.
»Sie müssen Geduld haben und stark sein, Ihre Frau kämpft um ihr Leben.«
»Aber meine Frau ist schwanger! Das hab ich dem Arzt in Leverkusen schon gesagt!« Röhrdanz hörte, wie seine Stimme von den Wänden widerhallte. »Wir bekommen ein drittes Kind!«
Die junge Frau weinte wieder und schüttelte nur den Kopf.
»Was ist mit dem Baby?«, drängte nun Thomas. »Sie haben doch gehört, was er gesagt hat!«
»Ich muss jetzt wieder rauf. Es dauert noch.« Sie wies mit dem Kopf in eine unbestimmte Richtung, die außerhalb von Röhrdanz’ Vorstellungsvermögen lag. Entschlossen sprang sie auf und verschwand wieder in eine bedrohliche Welt aus Tupfern, Zangen, Scheren
und Skalpellen, die Röhrdanz nur aus dem Fernsehen kannte.
Dorthin, wo seine Angela, schwanger, neunundzwanzig Jahre alt, lauter Fremden ausgeliefert war! Warum durfte er nicht wenigstens ihre Hand halten?
Röhrdanz blieb mit Thomas und der furchtbaren Ungewissheit zurück. Er verbarg das Gesicht in seinen Händen, damit sein Freund nicht sehen konnte, dass er weinte.
L ängst hatte sich die Dämmerung draußen vor den Fenstern in Dunkelheit verwandelt, zäh wie flüssiger Teer lag nun die Nacht vor ihm.
Noch immer hatte er keine Auskunft erhalten, noch immer stand er einfach nur unter Schock.
Thomas hatte Röhrdanz’ Schwiegermutter angerufen und darum gebeten, dass die Kleinen bei ihr übernachten konnten.
Oliver war erwartungsgemäß bei der Nachbarin aufgetaucht, die den Wohnungsschlüssel hatte, und saß nun allein vor dem Fernseher. Er wusste nur, dass seine Stiefmutter im Krankenhaus lag und sein Vater bei ihr war.
Helga hatte die Kleinen zu Bett gebracht und wartete ihrerseits höchst angespannt auf einen Anruf ihres Schwiegersohns.
Was sollte Röhrdanz ihr sagen? Dass ihre Tochter seit nunmehr sieben Stunden im OP war? Dass die junge Assistenzärztin geweint hatte, es also etwas unfassbar Schlimmes sein musste? Röhrdanz zog es vor, Helga
nicht in das Ausmaß der Katastrophe einzuweihen, bevor er Näheres wusste.
Thomas hatte inzwischen etwas Essbares aus der Kantine besorgt, Röhrdanz konnte sich allerdings nicht erinnern, was es gewesen war. Er bemerkte nur die Plastikbecher und Pappteller, die sich in dem Papierkorb neben dem Sessel türmten, auf dem Thomas versuchte, in einer Zeitschrift zu lesen. Doch das laute Rascheln verriet, dass sein Freund sich auf keinen Artikel konzentrieren konnte. Immer wieder wanderten seine Augen suchend zur Eingangstür des Wartebereiches.
Nach endlosen Stunden tauchte die Assistenzärztin wieder auf.
Sie sah noch mitgenommener aus als am Nachmittag, ihr Gesicht war wächsern und blass.
»Sie sollten nicht länger hier warten«, begann sie stockend.
»Ist sie … tot?« Röhrdanz wusste nicht, ob er oder Thomas diese Frage gestellt hatte.
»Nein, sie hat die OP … überstanden.«
»Überstanden. Was heißt das?«
Die Ärztin zuckte mit den
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